MARIENLEXIKON

Walsingham

Neuartikel von Daniel Stark (22.8.2024)

Walsingham, auch als „englisches Nazareth“ bekannt, ist ein marianischer Wallfahrtsort in der Grafschaft Norfolk. Der Ursprung dieses Wallfahrtsortes reicht bis vor die normannische Invasion von 1066 zurück und bestand bis zur Zerstörung unter König Heinrich VIII. Die Gründungslegende wurde um 1460 von Richard Pynson publiziert und trägt daher den Titel ‚The Pynson Ballad‘. Nach dieser Legende soll die adlige Witwe Richaldis de Faverches im Jahr 1061 eine Vision gehabt haben, in der die Gottesmutter Maria sie im Geiste nach Nazareth führte, um dort das Heilige Haus auszumessen. Die Witwe erhielt von der Gottesmutter den Auftrag, in Walsingham das Heilige Haus nachzubauen, damit die Menschen dort die Menschwerdung Christi verehren und Hilfe in aller Not finden könnten. Der Ort, an dem es stehen sollte, zeigte sich darin, dass der Morgentau zwei Stellen in der Wiese nicht bedeckte. Nachdem die Zimmerleute vergeblich versuchten, an der ersten Stelle das Holzhaus nach den Maßen des Originals zu errichten, kamen Engel, stellten es an die zweite Stelle und vollendeten den Bau.
Weitere Hinweise zu den Ursprüngen Walsinghams finden sich in einer Pipe Roll von 1130/31 sowie in einer Gründungsurkunde von 1153. In ersterer wird erwähnt, dass ein William de Hecton 10 Goldstücke zahlte, um die Witwe von Geoffrey de Faverches zu heiraten und die Vormundschaft für ihren Sohn zu übernehmen. Die Gründungsurkunde von 1153 bestätigt, dass Geoffrey de Faverches ein Priorat zur Sorge für die Kapelle gründete, die seine Mutter errichtet hatte. Unter Fachleuten ist umstritten, ob die besagte Witwe Richaldis de Faverches oder deren Schwiegertochter war. Gesichert ist dagegen das Bestehen des Priorats seit 1153, das von den Augustiner-Chorherren besiedelt wurde. Das ursprüngliche Gnadenbild, Maria mit Kind, stammte aus dem 12., wenn nicht sogar aus dem 11. Jahrhundert.
Walsingham erlangte große Bedeutung ab König Heinrich III. (1216-1272), der im April 1226 zum ersten Mal das Heiligtum aufsuchte. Seine Nachfolger bis Heinrich VIII. (1509-1547) suchten den Wallfahrtsort regelmäßig auf und statteten ihn mit zahlreichen Kostbarkeiten und Privilegien aus. Heinrich VIII. pilgerte bereits mit seinem Vater Heinrich VII. (1485-1509) nach Walsingham, und als junger König entrichtete er regelmäßig Geldspenden.
Neben den englischen Königen und Königinnen kamen unzählige Pilger, sodass Walsingham im Mittelalter neben Rom, Santiago de Compostela und Canterbury zu den größten Wallfahrtsorten Europas gehörte. Zu den berühmtesten Pilgern zählte Erasmus von Rotterdam, der in seiner Schrift ‚Peregrinatio religionis ergo‘ auf satirische Weise die Gebäude, Ausstattung, Statuen und Dekoration beschreibt. Die Pilger kamen auf dem sogenannten ‚Walsingham Weg‘ aus allen Himmelsrichtungen, wohnten in Herbergen und beteten in den verschiedenen Kapellen am Wegesrand, etwa in ‚Our Lady of the Red Mount in King’s Lynn‘ oder in der ‚Slipper Chapel‘ in Houghton-in-the-Dale. Letztere war die letzte Kapelle auf dem Weg von London her und der heiligen Katharina geweiht. Den Namen ‚Slipper‘ erhielt die Kapelle vom Brauch, dass die Pilger von dort aus das letzte Stück barfuß zurücklegten.
Das jähe Ende Walsinghams kam 1538 durch Heinrich VIII. Trotz der Walsingham-Rebellion wurde der Wallfahrtsort geplündert und zerstört. Das Gnadenbild wurde nach London gebracht und kurze Zeit später in Chelsea verbrannt. Der Verlust des Gnadenortes schlug sich in einigen literarischen Werken nieder, etwa in ‚A Lament for Our Lady’s Shrine at Walsingham‘ (um 1600), das dem hl. Philip Howard, Earl of Arundel, zugeschrieben wird. Auch in den Werken William Shakespeares, wie in ‚Hamlet‘ oder ‚The Winter’s Tale‘, gibt es Anklänge an die Zerstörung von Walsingham.
Nachdem im 19. Jahrhundert die katholische Kirche im Vereinigten Königreich wieder anerkannt wurde, erwarb 1896 Charlotte Pearson Boyd die Slipper Chapel und ließ sie restaurieren. Im darauffolgenden Jahr stellte Papst Leo XIII. den Wallfahrtsort wieder her. Noch im selben Jahr, am 20. August, wurde die erste Wallfahrt abgehalten. Am 19. August 1934 erhoben Kardinal Francis Alphonsus Bourne von Westminster und Bischof Lawrence Youens von Northampton im Beisein von 10.000 Pilgern die Slipper Chapel zum Nationalheiligtum der Katholiken in England. Am 15. August 1954 wurde die Gnadenstatue von Erzbischof Gerald Patrick O’Hara im Auftrag des Papstes gekrönt. Zudem wurde eine kostbare Krone durch Spenden englischer Frauen angefertigt, die zu besonderen kirchlichen Ereignissen getragen wird. Beim Besuch von Papst Johannes Paul II. im Jahr 1982 wurde die Walsingham-Madonna zur Papstmesse im Wembley-Stadion aufgestellt.
Auch auf anglikanischer Seite erfuhr Walsingham eine Wiederbelebung. Nachdem 1921 der anglikanische Geistliche Alfred Hope Patten Vikar in Walsingham wurde, belebte er die Wallfahrt neu. Er ließ, wie die Katholiken, eine Marienstatue anfertigen, die sich am Siegel des mittelalterlichen Priorats orientierte. Zunächst wurde die neue Statue in der Pfarrkirche St. Mary zur Verehrung aufgestellt. Der Pilgerstrom wuchs sehr schnell an, sodass neben der Errichtung eines Pilgerhospizes 1931 eine Wallfahrtskirche mit einem Heiligen Haus errichtet und die Statue darin aufgestellt wurde. 1938 wurde die Wallfahrtskirche erweitert und am Pfingstmontag eingeweiht. Seit 1959 findet die jährliche ‚National Pilgrimage‘ mit ca. 8.000 Pilgern statt, ursprünglich am Pfingstmontag und seit 1971 am Spring Bank Holiday (letzter Montag im Mai).
Das katholische und das anglikanische Gnadenbild Unserer Lieben Frau von Walsingham unterscheiden sich nur minimal. Die Gottesmutter sitzt auf einem Thron, zu ihren Füßen ein Stein. Die Rückenlehne wird von zwei Säulen flankiert, die das Haus Gottes, also die Kirche, symbolisieren. Die rechte Säule trägt drei Ringe und die linke vier, die für die sieben Sakramente stehen (die anglikanische Version hat nur drei Ringe je Säule). Die Säulen werden durch einen Bogen verbunden, der auf den Regenbogen verweist. Maria selbst trägt eine Krone sowie einen Heiligenschein, und in der rechten Hand hält sie eine dreifache Lilie als Zepter. Mit ihrer linken Hand hält sie das Jesuskind, das auf ihrem linken Knie sitzt. So präsentiert sich Maria auch als ‚Sitz der Weisheit‘. Das Jesuskind, ebenfalls mit Krone und Heiligenschein, hält in seiner linken Hand als das fleischgewordene Wort Gottes die Heilige Schrift. Die rechte Hand erhebt es zum Segen, macht aber zugleich einen Schutzgestus für seine Mutter.

Literatur

DICKINSON, John Compton, The Shrine of Our Lady of Walsingham, Cambridge 1956. – CLAYTON, Mary, The cult of the Virgin Mary in Anglo-Saxon England (Cambridge studies in Anglo-Saxon England 2), Cambridge 1990. – CLOUGH, Juliet, A shrine shard: Juliet Clough continues her pilgrimage series with a visit to Walsingham in Norfolk, in: The Guardian 13 (1991) 28. – BLOM, J. F., Art. “Walsingham”, in: ML VI (1994) 687 f. – GILL, Sean, Marian Revivalism in Modern English Christianity: the Example of Walsingham, in: R. N. Swanson (Hg.), The Church and Mary: Papers Read At The Summer Meeting And The 2002 Winter Meeting Of The Ecclesiastical History Society (Studies in Church History, 39), S. 349-357. – LEYER, Henrietta, Art.: Favereches [Favarches], Richeldis de, in: ODNB 23. September 2004. – COBB, Peter G., Art.: Patten, (Alfred) Hope (1885-1958), Church of England clergyman and restorer of the shrine of Our Lady of Walsingham, in: ODNB 23. September 2004. – CUSAK, Carole M., Medieval Pilgrims and Modern Tourists. Walsingham (England) und Meryem Ana (Turkey), in: Fieldwork in Religion 11/2 (2016), 217-234. – DUNN-HENSLEY, Susan, Return to the Sacred. The Shrine of Our Lady of Walsingham and Contemporary Christianity, in: Religions 9/6 (2018), 196-203. – MILLES, Laura Saetveit, The Virgin Mary’s Book at the Annunciation. Reading, Interpretation and Devotion in Medieval England, Woodbridge 2020.

https://www.walsingham.org.uk/ (Internetpräsenz des kath. Heiligtums)
https://www.walsinghamanglican.org.uk/ (Internetpräsenz des anglikan. Heiligtums)