Marien- und Heiligenverehrung
Kontrollierte Version des Art. „Heilige und Maria“ von G. L. Müller, ML-Bd. II (1989) S. 684-692; mit neuerer Literatur – von Gerhard Ludwig Kardinal Müller
1. Die Problemstellung: Zum Verständnis des geschichtlich-eschatologisch sich vollziehenden Heils gehört die gläubige Einsicht in eine lebendige Verbindung des ekklesialen Leibes (-> mystischer Leib) Christi, der als seine Glieder sowohl die Seligen im vollendeten (himml.) Teil der Kirche (sancti in patria) als auch die in der Taufe geheiligten Brüder u. Schwestern (sancti in via) umfasst. Es gibt eine geschichtlich-horizontale und eine eschatol.-vertikale Einheit des Volkes Gottes (vgl. Hebr 12,22-24; Offb 6,9-11). Der Tod als »Sterben im Herrn« (1 Thess 5,10; Röm 14,8 f.) bedeutet eine endgültige Gleichgestaltung mit dem auferstandenen u. erhöhten Herrn (Röm 6,5) und eine Teilnahme an der Heil schaffenden Herrschaft Gottes gegenüber der Welt (vgl. Offb 20,6), aber auch gegenüber dem irdischen Teil der Kirche, die pilgernd ihrem Herrn u. Haupt entgegengeht. Indem die himml. Heiligen gleichsam schon auf der Seite des erhöhten Herrn stehen, nehmen sie an der Bewegung Christi als des Hauptes zur Kirche als seinem Leib teil und tragen so die antwortende Bewegung des Leibes zum Haupte hin mit (vgl. Eph 4,13-16; vgl. 2 Thess 1,7). Das von Christus getragene priesterlich-königl. Wirken der Glieder des Leibes für die Welt und füreinander (vgl. 1 Petr 2,5.9; 4,10) findet am Tod keine Grenze, weil in Jesu Auferstehung die Liebe den Tod überwunden hat und damit zum Band geworden ist, das alles zusammenhält u. vollkommen macht (Kol 3,14). Der Tod als letzte Gleichgestaltung mit Christus hebt darum den Heil schaffenden Charakter der Nächstenliebe nicht auf, sondern offenbart ihre heilsvermittelnde Kraft. Deshalb können in der himml. Liturgie »die Gebete der Heiligen« Gott dargebracht werden zusammen mit dem Lob Christi, des Lammes, das durch seinen Tod Menschen für Gott erworben und sie zu Königen u. Priestern gemacht hat, damit sie über die Erde herrschen, d. h. durch ihre Hingabe Gottes Heilsmacht widerspiegeln (vgl. Offb 5,8-10). Diese in der christol. Begründung des Heils u. der ekklesialen, geschichtlichen und eschatol. Gestalt seiner Durchsetzung latent mitgegebene Idee einer die irdische u. himmlische Kirche umspannenden Gemeinschaft der Heiligen (als Anteil an der Heilsgabe und damit als Verbundenheit aller Personen im Heil) ist dogmatisch aus der Martyrerverehrung heraus entfaltet worden. Seit dem 3. u. 4. Jh. kristallisierte sich eine Klassifizierung der himml. Heiligen heraus. Das Glaubensbekenntnis des II. Konzils von Nicäa (787) bietet eine kirchenamtl. Rezeption u. Bestätigung dieser allerdings schon viele Jh.e alten Überzeugung. Die Gemeinschaft der himml. Heiligen wird gegliedert gedacht nach dem Grade ihrer Bedeutung bzw. nach der geschichtl. Folge des Auftretens des entsprechenden Heiligen-Typus. An erster Stelle steht Maria als die Gottesgebärerin, es folgen die Engel, die Patriarchen, die Apostel und Propheten, die Märtyrer, die hll. Glaubenslehrer, die hll. Jungfrauen und Asketen, sowie alle hll. Männer u. Frauen (vgl. Mansi 13,129-131). Wenn es bei der Reihung dieser Gruppen im einzelnen auch Varianten gibt (vgl. den Hymnus »Te Deum laudamus«; Niketas v. Remesiana, Explanatio symboli, ed. E. Born, Cambridge 1905, 48), so steht zweifellos Maria immer an der Spitze. Dies findet seinen Ausdruck in den Titeln „Königin des Himmels“, d. h. der Gemeinschaft der Heiligen, der Apostel, der Märtyrer usw.
Dabei ist zu beachten, das MV mehr ist als ein Spezialfall der allgemeinen Heiligenverehrung. Beide Frömmigkeitsformen unterscheiden sich im Gegenüber zur Gottesverehrung untereinander zwar nur graduell. Aber diese Differenz hat selbst noch einmal einen formellen Grund, der in der einzigartigen, unübertragbaren Begnadung Mariens besteht, die Mutter des inkarnierten ewigen Wortes Gottes zu werden und mit dem Erlösungswerk Christi am Kreuz engstens verbunden zu sein (vgl. Lk 2,34 f.; Joh 19,25-27). Die Unterscheidung und die Verbindung von Heiligen- u. Marienverehrung zeigen sich in der geschichtl. Genese und in der systematischen Reflexion.
2. Geschichtliche Aspekte: Bis ins 3. Jh. hinein gibt es keine (nachweisbar) praktizierte MV. Erst als die Formen der seit dem 2. Jh. entwickelten Martyrerverehrung auf Maria übertragen wurden, entstand ein eigener Marienkult. Dabei ist aber zu beachten, dass Maria schon zuvor für den Glauben u. die Theologie von Interesse war, wie die biblisch-heilsgeschichtl. Typologie (-> Eva-Maria-Antithetik bei Justin, Irenäus u.a.) sowie die Christol. der wahren Menschwerdung Gottes aus der Jungfrau Maria (-> Ignatius v. Antiochien u.a.) und die These von der hypostatischen Einheit von göttlicher u. menschlicher Natur Christi mit dem dazugehörigen Streit um den Theotokos-Titel belegen. Der Unterschied von Marien- u. Heiligenverehrung liegt also in dem formellen Grund der nur Maria zukommenden Gnade der jungfräulichen GMschaft, in der (auf Grund ihrer Gemeinschaft mit dem auferstandenen Herrn im Himmel) eine proexistente Relation zur Kirche insgesamt mitgegeben ist.
Eine christl. Theol. des Martyriums u. des Märtyrers hat bedeutungsvolle Ansätze im NT und bei den Apostol. Vätern. Sie wird entfaltet bei den großen Theologie des 3. Jh.s (Klemens v. Alexandrien, Origenes, Tertullian, Cyprian), um schließlich im 4. Jh. voll ausgearbeitet zu werden (Athanasius, die Kappadocier, Hieronymus, Augustinus). Auch in den Märtyrer-Akten werden die tragenden Ideen ausgesprochen, so vor allem schon im Polycarp-Martyrium (ca. 160 n. Chr.). Der Märtyrer ist demnach der getaufte Christ, der durch seine Treue bis in den Tod den Weg der Nachfolge des gekreuzigten u. auferstandenen Christus bis zum Ende gegangen ist und dabei in die beseligende Lebensgemeinschaft mit dem erhöhten Herrn u. mit Gott dem Vater eingetreten ist. Auf Grund der geglückten Nachfolge hat er den geistl. Wettkampf bestanden (vgl. Eph 6,10-17) und ist zur Vollendung in der Gemeinschaft mit dem trinitarischen Gott gekommen. Weil in Jesus Christus, dem Haupt der Kirche, zwischen der pilgernden u. der vollendeten Kirche eine heilsrelevante Wechselwirkung besteht, ergibt sich von Seiten der pilgernden Kirche eine Verehrung der himml. Heiligen durch die Wahrung ihres Gedächtnisses, die Nachahmung ihres Lebens (ihrer Tugenden), im vertrauensvollen Zuruf (invocatio) um ihr Gebet, während die Glieder der himml. Kirche in der Kraft des Hauptes der Kirche und in Gemeinschaft mit Jesus Christus tätig werden durch die Aktivierung ihrer Pro-Existenz, d.h. als Vermittler der Fürbitte, Richter der Welt (in der lobenden Einstimmung in Gottes Gnadenurteil), als Patrone (advocati) der Gläubigen und wundertätige Helfer (patroni). Diese zum Teil biblischen, zum Teil aus der rel. und kulturellen Umwelt übernommenen Titel für die Heiligen müssen jedoch streng von ihrer christol. Grundlegung her und ihrem ekklesialen Bezugssystem ausgelegt werden. Dadurch wird ein Missverständnis im Sinne der Konkurrenz zur satisfaktorischen Mittlerschaft Christi als Haupt u. Ursprung aller kirchlichen u. sakramentalen Heilstätigkeit vermieden. Bei einem richtigen Verständnis ist aber auch der Protest dagegen im Namen der einzigen Mittlerschaft Christi, die auf einer anderen Ebene steht, überflüssig geworden. Indem der wesentliche Unterschied zwischen Gottesverehrung u. Heiligenverehrung sowie der konstitutiven Heilsvermittlung Christi und deren Auswirkung im interpersonalen Lebensgefüge der Kirche hervorgehoben wird, muss zugleich auch gesagt werden, dass die himml. Heiligen nicht neben Gott verehrt und um ihr Gebet angesprochen werden, sondern dass in den Heiligen Gott selbst geehrt wird, der sich an ihnen so gnädig und hilfreich erwiesen hat. Darum geht die den Heiligen erwiesene Ehre auf Gott über, so wie in der Liebe zum Nächsten auch Christus selbst geliebt wird, ohne dass Gott und der Nächste miteinander identifiziert werden bzw. es zu einer Abschleifung der absoluten Differenz von Gott und Geschöpf kommt (vgl. schon Basilius der Große, De spiritu sancto 18,45: PG 32,249; vgl. auch DS 675). Unterscheidung u. Zusammenhang der Mittlerschaft Christi und der Heiligen ergibt sich aus der Differenz u. Einheit von Christus als Haupt u. Ursprung des Heils und seiner Vergegenwärtigung in der Kirche, seinem Leib. Ohne Christus können die Glieder des Leibes Christi nichts tun, aber als Glieder tun sie auch das, was er tut (vgl. Joh 14,12: »Wer an mich glaubt, wird die Werke, die ich vollbringe, auch vollbringen, und er wird noch größere vollbringen, denn ich gehe zum Vater.«). Für diese Zusammenhänge nimmt das II. Konzil von Nicäa (787) den schon im Polycarp-Martyrium angedeuteten Sprachgebrauch offiziell in die kirchl. Terminologie auf. Der Akt der Anbetung kommt Gott als Schöpfer u. Erlöser alleine zu. Dies ist der latreutische Kult (cultus latriae). Die Verehrung der Heiligen (der indirekten Verehrung der Gnade Gottes an seinen Heiligen) heißt dulische Verehrung (cultus duliae), während die besondere Verehrung Marias als GM eine Steigerung des cultus duliae, d.h. cultus -> hyperduliae, genannt wird. Auch das Konzil von Trient (1563) übernimmt in seinem Dekret über die Heiligenverehrung diesen lange eingebürgerten Sprachgebrauch (DS 1832), ebenso das II. Vatikanische Konzil (LG 66). Ein Spezialproblem ergibt sich in der Christologie: Wegen der Personeinheit gibt es für Christus nur eine einzige latreutische Verehrung. Der menschl. Natur Christi für sich genommen gebührt der cultus hyperduliae, der sich aber mit dem Akt der Anbetung verbindet, ohne sich mit ihm zu vermischen (vgl. DS 259; 431). Die frühe Kirche vollzog die Heiligen- u. Marienverehrung nicht in gedankenlosem Synkretismus (d. h. der Zusammenstellung entgegengesetzter Ideen u. rel. Praxis). Sie musste auch theol. und reflexiv die Eigenart der Heiligenverehrung und ihre Konformität mit den christl. Grundeinsichten (Monotheismus, Selbstmitteilung Gottes an den Menschen als Wahrheit und Gnade, hypostatische Union, Schöpfer-Geschöpf-Differenz, Allursächlichkeit der göttlichen Gnade für die Konstitution u. die Vermittlung des Heils) herausarbeiten. Gegen den arianischen Vorwurf, die Heiligen würden wie Gott angebetet, sowie auch gegenüber der heidnischen Propaganda (Celsus, Porphyrius, Faustus der Manichäer, Kaiser Julian Apostata, Eunapius, Maximus v. Madaura), die die Märtyrer als Ersatz für die Götter, Dämonen u. Heroen ausgeben will, arbeiteten die großen Kirchenväter die Originalität der Heiligenverehrung in Idee u. kultischem Vollzug heraus. Die Heiligen werden nicht durch Anbetung als Götter verehrt, sondern als die Freunde Christi und unsere Brüder u. Schwestern geliebt. Gegen die christl. Sekte der Philomarianiten (-> Kollyridianer, die Maria wie eine Göttin anbeteten), wendet sich Epiphanius v. Salamis ebenso wie gegen die Verächter der MV (-> Antidikomarianiten), die auch die kirchlich übliche MV ablehnen (Panarion III, haer. 79: GCS 37,452-475; vgl. Joh. v. Damaskus, De haer. 78,79; PG 94,727). Allerdings waren insgesamt im Laufe der Geschichte immer wieder innerkirchl. Abgrenzungen gegenüber theol. Defizienzen, pathologischen Zügen u. abergläubischen Vorstellungen in diesem Zusammenhang notwendig (vgl. etwa 4. Laterankonzil: DS 818; Konzil von Trient: DS 1832; II. Vatikanum, LG 67). Das hier auftauchende Problem liegt allerdings nicht in der Heiligenverehrung als solcher, sondern in der richtigen Einsicht in das Wesen des Gebetes überhaupt. Das Gebet in der persönl. Anrede Gottes oder das Gebet zu Gott in der Form des Mitbetens mit den Heiligen hat christlich gesehen den Sinn einer Einstimmung in den Willen Gottes, der in allem das Heil des Menschen will, aber nicht den Sinn einer mechanisch-physischen Beeinflussung der höheren Mächte, damit sie die numinosen Kräfte eines unheilvollen Schicksals bannen.
Es versteht sich von selbst, dass die in der Gnadentheologie begründete Rede von der Vergöttlichung jedes Getauften sowie auch der himml. Heiligen und Marias keine substanzhafte Vergottung oder eine Beförderung in den heidnischen Götterhimmel meint, sondern die Teilhabe am Leben des dreifältigen Gottes auf Grund seiner freien Gnade.
3. Systematische Entfaltung: Die neuere theol. Fragestellung ist beherrscht vom Einspruch der luth. u. calvinischen Reformation. Zwar wird nicht der ganze Glaube u. Kult bezüglich Marias und der Heiligen verworfen. Die Confessio Augustana (mit der Apologie) kennt eine dreifache Ehre der Heiligen: Dank an Gott, dass er sie der Kirche geschenkt hat; Stärkung unseres Glaubens an ihrem Beispiel; Nachahmung ihrer Tugenden. An der GMschaft Marias und ihrer bleibenden Jungfräulichkeit lassen die Bekenntnisschriften (-> Bekenntnisse) keinen Zweifel (vgl. BSLK 1024), während lediglich beim Thema der Bewahrung Marias vor der Erbschuld und ihrer leibl. Vollendung die prot. Kirchen hinter der Dogmenentwicklung in der kath. Kirche zurückgeblieben sind. Auch das Bewusstsein von der lebendigen Verbindung der Kirche im Himmel und auf Erden findet seinen Ausdruck in der Überzeugung, dass Maria und die Heiligen für die Kirche auf Erden beten (CA 21). Der dogm. entscheidende Unterschied betrifft die persönl. Anrufung der Heiligen um Gebet, Schutz und Hilfe. Indem die Heiligen als Mittler aufgefasst werden, glaubt die Reformation das Dogma von der Alleinurheberschaft des Heils u. der alleinigen Vermittlung der Rechtfertigung durch die Erlösungstat Christi und der Zueignung durch den Glauben allein durch verdienstliche Werke (z.B. auch Zuflucht zu dem Verdienst der Heiligen) in Frage gestellt. In dieser Perspektive wird die Anrufung der Heiligen als Götzendienst und endchristl. (= anti-christl.) Missbrauch verdammt (Luther, Schmalk. Art. II/2: BSLK 424). Die hier sich zeigende soteriol. Konzentration bedingt eine Fixierung auf den Akt der Rechtfertigung des Sünders in der Zuwendung der Verdienste Christi. Die Berufung auf Fürbitte u. Verdienste der Heiligen erscheint dagegen als eine Zutat und Ergänzung des Handelns Christi. Wenn Anrufung heißt, sein Heilsvertrauen auf jemanden setzen, dann ist klar, dass dies nur Christus und nicht die Menschen betreffen kann, die auf Grund ihrer Verdienste einen eigenen Zugang neben der Gnade zu Gott haben würden (WA 30/11, 644). Die ref. Theol. übersieht dabei, dass die klassischen Topoi der Hagiologie nicht im Rahmen der Soteriologie u. Rechtfertigungslehre, sondern der Ekklesiol. und Anthropologie auszulegen sind. Christus ist auf Grund der hypostatischen Union in der Tat in seinem erlösenden Handeln in Kreuz u. Auferstehung die alleinige Vermittlung der Menschheit in die Unmittelbarkeit Gottes. Auf dieser Ebene kann darum der Titel für die Heiligen als Mittler des Gebetes nicht angesetzt werden. Da Christus aber das Haupt der Kirche ist und damit zugleich auch Prinzip der Wechselwirkung der Glieder seines Leibes, aktualisiert er durch sein Mittlertum die Wirkung der Glieder der Kirche füreinander. Christus ist in der Differenz u. Einheit von Haupt und Leib der einzige Mittler zum Vater im Hl. Geist, aber so, dass die wechselseitige Verbundenheit der Glieder des Leibes eine Auswirkung, Darstellung u. Förderung seiner Heilsgegenwart im Menschen ist. Weil die kath. Theologie die Gnade nicht nur als je persönl. Vergebung versteht, sondern als Selbstmitteilung Gottes an den Menschen, sofern der individuelle Mensch auch ursprünglich in die Gemeinschaft der Menschheit hineingebunden ist, darum muss sie die kirchlich-soziale Dimension der Gnade ernst nehmen und kann diesen Aspekt in einer allg. Theologie der Fürbitte, aber auch der Marien- und Heiligenverehrung thematisieren. In einer umfass. Gesamtsicht findet sich das Bekenntnis zur Marien- u. Heiligenverehrung im 7. u. 8. Kapitel der Kirchenkonstitution »Lumen gentium« des II. Vatikan. Konzils dargestellt. Die ref.-kath. Differenz beruht weitgehend auf einem Missverständnis. Für den einzelnen Gläubigen ist der Vollzug der Heiligen- u. Marienverehrung keineswegs ein konstitutives Element an der sakramentalen Heilsvergegenwärtigung. Insofern ist die prot. Meinung, die Heiligen seien eine unumgängliche Stufe im Zugang des Gläubigen zu Jesus Christus, gegenstandslos. Es geht nur um ein allerdings im kirchl. Leben gut begründetes förderliches Element der Frömmigkeit u. des Wachstums hin zu Christus und zu den Brüdern u. Schwestern. Für die kath. Theol. ist aber das Thema Maria und die Heiligen deshalb so wichtig, weil sich hier entscheidende Einsichten der christl. Anthropologie und des Verständnisses der Gnade und ihrer Auswirkung im kirchl. Leben gut zum Ausdruck bringen lassen. Dabei werden vor allem die Verwandlungskraft der Gnade erkennbar und ihr Charakter als Selbstmitteilung Gottes an die Kreatur mit dem Ziel der freien Annahme. Es gibt in Christus nicht mehr nur die reine Transzendenz Gottes, der der Mensch erwartend u. passiv gegenübersteht. Wird Gnade nicht verstanden als eine bloße Erklärung Gottes, sich mit uns versöhnt zu haben, sondern als reale Selbstmitteilung Gottes an uns, als Inhalt, Prinzip u. Ermöglichung unserer auf ihn hingeordneten Selbsttranszendenz, damit wir in der Antwort auf seine Liebe uns mit ihm als der Liebe selbst vereinigen, dann muss von der Antwort des Menschen so die Rede sein, dass in der Antwort die Communio mit Gott zur Erscheinung kommt. Klassisch formuliert heißt das ja »die Mitwirkung am Heil«. Dabei geht es nicht um eine Ergänzung der Heilsursache oder um eine Tätigkeit von unserer Seite, um Gott zu bestimmen, von seinem »Zorn« sich zu einer Versöhnung bewegen zu lassen. Diese Mitwirkung am Heil kommt in besonderer Dichte an Maria selbst zum Ausdruck. Die Mitwirkende an der Erlösung heißt Maria, indem sie (auf Grund der Gnade) das Heil aus dem Glauben in Freiheit empfängt und so die Selbstmitteilung Gottes beim Menschen angekommen sein lässt als eine angenommene Selbstmitteilung. Das Stehen Marias bei Jesu Kreuz ist nichts anderes als die Vollendung ihres Glaubens in der Nachfolge und Gleichgestaltung mit Christus (vgl. Lk 2,33; Joh 19,25-27). Die personale und freie Empfängnis der Nähe Gottes im Glauben begründet nicht die Erlösung oder macht diese vorausgehend und nachfolgend abhängig von einer autonomen Zustimmung des Geschöpfs. Hier würde ja der Mensch zu einem effizienten Moment am Versöhnungswillen Gottes. Eine Disposition zur freien Annahme der Gnade ist freilich unumgänglich, soll Liebe als Angebot Gottes durch die suspendierte Freiheit der Annahme sich nicht selbst um ihr Ziel, nämlich die freie Annahme in der Liebe, bringen. Diese Disposition wird aber im Akt der Selbstmitteilung Gottes an den Menschen in Geist und Wort schon mitgesetzt, so dass der Mensch durch eine übernatürliche Ergebung seines Willens liebend antworten kann, was er aus seinen eigenen Kräften heraus (ohne Gnade) nicht vermochte. Indem Maria sich in ihrer gesamten Existenz von der Gnade Gottes verfügen lässt in ihre Sendung hinein, fallen einmalig bei ihr ihre heilsgeschichtl. Rolle, die Mutter des Herrn zu sein (Lk 1,43) und ihre persönl. Heiligkeit (Lk 1,28) signifikant zusammen. Im Sinne dieser exemplarischen Einheit von Sendung u. personaler Heiligkeit, die an heilsgeschichtlich exponierter Stelle nur einem einzigen Menschen gegeben wurde, um die Mutter des Erlösers zu sein, darf Maria als die exemplarisch Erlöste gelten, und somit bündeln sich in der Mariologie alle Intentionen theol. Anthropologie. Die Gnade wird dem Menschen nie gegeben, damit sie nur ihm nützt. Dabei gilt das alte Axiom: je heiliger und begnadeter ein Mensch ist, desto mehr ist er auf die Gemeinschaft hin geöffnet (Ambrosius, De virg. 1,9,51: PL 16,213). Darin gründet Marias umfassende fürbittende Mittlertätigkeit für die Kirche. Aber in Sein u. Sendung der Heiligen kommt zugleich die Ehre Gottes in der Welt zur Erscheinung. Gewiss wird Gott als der Schöpfer durch den Menschen geehrt. Aber eigentlich kann nur Gott sich selbst ehren, d.h. seine Herrlichkeit in der Welt als Heil offenbaren. Und darum muss es heißen, dass Gott sich in den Heiligen selber ehrt, insofern seine Gnade im Modus der freien Annahme eschatologisch siegreich geworden ist (vgl. Joh 12,26). Gott offenbart seine Ehre in der geglückten Selbstmitteilung an den Menschen, dem er sich heilend u. heiligend schenkt als den in Christus vermittelten unmittelbaren Inhalt seines kreatürlich-freien Vollzugs in der personalen Selbsttranszendenz auf Gott hin. Die theol. Anthropologie, besonders in ihrer Verdichtung in der Mariologie, wird zum Kriterium für den ganzen Ernst der Erkenntnis, dass Gott Mensch geworden ist, damit wir durch die Menschheit Jesu Christi (in ihrer inneren Zuordnung von Haupt u. Leib als dem einen und ganzen Christus) zur Teilnahme am Leben der dreifältigen Liebe Gottes vermittelt werden. G. L. Kardinal Müller (Januar 2024)
Literatur: J. H. Newman, Die kath. Marienverehrung, In: Ders., Polemische Schriften, Ausgewählte Werke IV, hrsg. von M. Laros und W. Becker, 1959, 3-109. — B. Kötting, Entwicklung der Heiligenverehrung u. Geschichte der Heiligsprechung, In: Die Heiligen in ihrer Zeit I, hrsg. von P. Manns, 1967, 27-39. — K. Rahner, Vom Geheimnis der Heiligkeit, der Heiligen u. ihrer Verehrung, ebd. 9-26. — P. Molinari, Die Heiligen u. ihre Verehrung, 1964. — Ders., Der endzeitl. Charakter der pilgernden Kirche u. ihre Einheit mit der himml. Kirche, In: De Ecclesia, hg. v. G. Barauna, 1966. — H. U.v. Balthasar, Schwestern im Geist. Therese v. Lisieux und Elisabeth v. Dijon, 1970. — H. de Lubac, Credo … Sanctorum Communionem, In: IKaZ 1 (1972) 18-32. — J. Ratzinger, Die Tochter Zion. Betrachtungen über den Marienglauben der Kirche, 1977. — G. Söll, Mariologie, In: HDG III/4. — H. Urs v. Balthasar, Die Heiligen in der Kirchengeschichte, In: IKaZ 8 (1979) 488-495. — T. Baumeister, Die Anfänge der Theologie des Martyriums, 1980. — G. Kretschmar u. R. Laurentin, Der Artikel vom Dienst der Heiligen in der Confessio Augustana im Bekenntnis des einen Glaubens, hg. von H. Meyer u. H. Schütte, 1980, 265-280. — K. Rahner, Gebete zu den Heiligen, In: J. B. Metz u. K. Rahner, Ermutigung zum Gebet, 1980, 43-110. — H. U. v. Balthasar, Theodramatik IV, 1983. — W. Beinert (Hg.), Die Heiligen heute ehren, 1983. — K. Rahner, Mut zur Marienverehrung, In: Ders., Schriften zur Theologie 16, 1984, 321-335. — G. L. Müller, Der theol. Ort der Heiligen, In: ZkTh 109 (1986) 145-154. — Ders., Marien- u. Heiligenverehrung, In: Cath (M) 40 (1986) 165-186. — Ders., Gemeinschaft u. Verehrung der Heiligen, 1986. — RAC 14, 96—150. – Groupe de Dombes, Maria in Gottes Heilsplan u. in der Gemeinschaft der Heiligen, Paderborn/Frankfurt 1999. – L. Scheffczyk, Heiligenverehrung u. Marienverehrung, in: Mariolog. Jahrbuch 6 (2002) 3-22. – G. L. Müller, Mariologie, in: Ders., Kath. Dogmatik, Freiburg 102016, S. 472-508, speziell S. 502 f. G. L. Müller / A. Dittrich