MARIENLEXIKON

Hans Urs von Balthasar

Neu-Artikel von Gabriela Wozniak (Juli 2024)

Balthasar, Hans Urs von, *1905 in Luzern, †1988 in Basel, ab 1923 Studium der Germanistik und Philosophie in Wien, Berlin und Zürich, 1928 Promotion in Philos., 1929 Eintritt in die Gesellschaft Jesu, 1933-37 Studium der Theologie, 1936 Priesterweihe, 1937-39 Tertiar und Mitarbeiter bei der Monatszeitschrift „Stimmen der Zeit“ in München; ab 1940 Akademikerseelsorger in Basel, 1944 Gründung der Johannes-Gemeinschaft zusammen mit Adrienne von Speyr; 1950 Austritt aus dem Jesuitenorden als Folge der Gründung; ab 1956 Priester des Bistums Chur, bis dahin redakt. Leiter des von ihm 1947 begründeten Johannes-Verlag; 1988 Ernennung zum Kardinal, B. starb am Vorabend der Aufnahme in das Kardinalkollegium.
J. Ratzinger zählt Balthasar zu den einflussreichsten Theologen des 20. Jh.s. Obwohl B. nie eine Professur innehatte, umfasst sein Werk ca. 100 Bücher und hunderte von Artikeln, darunter seine berühmte 15-bändige Trilogie „Herrlichkeit – Theodramatik – Theologik“ (1961-87). Darin entwickelte er sein Konzept des „Dramas der Welt“, wo er die dramatischen Kategorien eines Theaters auf die gesamte Heilsgeschichte anwendet und mittels dieser Kategorien eine dogmatisch-ontolog. Metapher der Wirklichkeit entwickelt. Dies soll zur Überwindung der scholast. Statik und zur Wiederentdeckung der Schönheit Gottes, die sich in der Welt offenbart, verhelfen. B. schrieb vor allem gegen den anthropolog. Reduktionismus der nachkonziliaren Theologie – er vertritt eine Theozentrik „von oben“. B. lehnt den Subjektivismus des dt. Idealismus, über den er promovierte, ab, und geht von einer objektiven Offenbarungsgestalt aus, die sachlich „einleuchtet“. Nach der Art eines Literaturkommentators beschäftigt er sich mit allen weltl. u. christl. Geistesgrößen u. Systemen. Dialogpartner waren bedeutende Theologen seiner Zeit, die er kritisiert (z.B. K. Rahner, H. Küng) oder wertschätzt (z.B. K. Barth, J. Ratzinger).
B.s Mariologie ist aus der Gesamtheit seiner Schriften, vor allem aus der Trilogie, abzulesen. Ein eigenes, typisch mariologisches Buch hat er nicht verfasst, allerdings eine ganze Reihe von Einzelbetrachtungen zur Aufgabe Mariens. Er thematisiert die Rolle M.s innerhalb seines Konzeptes der Theodramatik und weist ihr eine Schlüsselstelle zu zwischen Altem u. Neuem Bund, Gefallensein u. Sündenfreiheit, Zeit u. Ewigkeit.
Anthropologisch sieht B. in Maria das vollkommene Exemplum menschl. Freiheit, die durch ihr Jawort nicht nur das Kommen des Erlösers ermöglicht, sondern auch für jeden die Bedingung der Möglichkeit darstellt, sich ganz für Christus zu entscheiden. Durch das von der Sünde unberührte und daher vollkommene Jawort M.s sieht er die Aussicht begründet, jeden der drei christl. Stände in einer Perspektive der Ewigkeit zu leben. Den Zölibat sieht er dabei in der restlosen Hingabebereitschaft M.s begründet, den Ehestand in der von ihr ihren Anfang nehmenden sponsalen Ekklesiologie.
Für die Rolle Mariens bei B. zentral sind die Zurückstellungen M.s, die in den Evangelien überliefert werden („Was willst du von mir, Frau“ in Joh 2,1-12; „Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder?“ in Lk 8,19 usw.). Er deutet sie als Abweisungen Jesu gegenüber seiner Mutter und deshalb auch als Zeichen der Solidarität M.s mit den Sündern. M. stellt sich freiwillig – bedingt durch ihr vollkommenes Jawort und konkretisiert durch die Demütigungen – hinter den letzten Sünder, unterfasst ihn und schließt ihn in die Reihe der Erlösten mit ein, ohne jede Nötigung, die angebotene Erlösung anzunehmen. Durch die „Unterfassung“ aller wird M. in ekklesiolog. Hinsicht zum Typos u. Urbild der Kirche, die jede Sünde umfasst und ihr Ja auch angesichts des Freiheitsmissbrauchs durch einzelne Mitglieder nicht zurückzieht. Den Höhepunkt der ekklesiolog. Unterfassung M.s sieht B. in der Kreuzesszene in Joh 19,23, wo sie den ihr anvertrauten Gottessohn abgeben und an seiner Stelle die Sünder als ihre Kinder annehmen soll. Maria als Unbefleckte, also Vorerlöste, wird von Christus am Kreuz weggeschenkt. Nach B. bedeutet dies für Christus die freiwillige Solidarität mit den Sündern in der Trostlosigkeit der Gottferne, die tiefstmögliche Form der Kenose, den schrecklichsten Aspekt seines Abstiegs in die Hölle.
Christologisch betont B. die Solidarität M.s mit dem Erlöser. Diese geschieht weder in irgendeiner Form der Miterlösung noch durch eine naheliegende „Mitkenose“, sondern in der Annahme ihrer „Identitätslosigkeit“ als Folge des umfassenden Gehorsams M.s gegenüber dem Willen Gottes. Dieser äußert sich durch die Begleitung u. Einführung Jesu in das Umfeld und die Bräuche Israels, sowie durch die Annahme seiner Sendung. Der Gehorsam M.s gipfelt in der Billigung der eigenen „Unbrauchbarkeit“ unter dem Kreuz, die sie die Passion ihres Sohnes mitempfinden lässt und dennoch ihre Wirkung auf das menschlich umfassende Jawort begrenzt, ohne direkt in den Erlösungsakt hineinwirken zu dürfen. Ihre Rolle unter dem Kreuz sieht B. als die Repräsentanz der Kirche u. der Schöpfung insgesamt. Maria verkörpert in der Kreuzesszene die Subjektivität der Erlösten gegenüber der sich restlos schenkenden Objektivität Gottes. Sie wird auf diese Weise zur Personifizierung der Kirche und zum Garanten des ununterbrochenen Glaubensbestands, selbst im Moment des Todes Christi.
B. nennt Maria „Kirche im Ursprung“ – dies umfasst sowohl ihr von jeder Sünde freies Ja, die vielen Zurückweisungen, die sie über sich ergehen lassen hat müssen, bis hin zu ihrer Anwesenheit unter dem Kreuz und geht deshalb weit über eine bloß tradit. Vorbildfunktion hinaus. Als einmalige Gestalt in der Erlösungsgeschichte wird sie für Balthasar zugleich zum allgemeingültigen u. exemplarischen „Typos“ für Glaubenshaltungen.
Im Hinblick auf die Rezeption der Mariologie B.s sind zwei Tendenzen erkennbar: (1) die Deutungsarbeiten u. unmittelbare Rezeption, die sich vor allem in Doktor- u. Habilitationsarbeiten äußert und schon zu Lebzeiten B.s. mit W. Löser (1976) begann; (2) die Versuche, mit B.s. Gedankengängen in Dialog zu treten und diese wirksam für die heutige Theologie zu machen. Hier wird vor allem versucht, aus der Typologie B.s eine Form der Phänomenologie zu gewinnen und diese aus der Verschlossenheit ihres theodramatischen Konzeptes herauszuholen. Gabriele Wozniak (22.7.2024)

Werke: Wer ist die Kirche?, in: Sponsa Verbi 1960, 148-203. – Marienverehrung heute, in: „Titlisgrüße“ – Zeitschrift für Freunde u. Schüler der Stiftschule Engelberg (Schweiz), 55. Jg., 1968/69, S. 2-6. – Das marian. Prinzip, in: Klarstellungen, Freiburg 1971, 65-72. – Die umgreifende Mütterlichkeit der Kirche, in: Ders., Der antiröm. Affekt, Einsiedeln 1974, 153-187. – Empfangen durch den Hl. Geist, geboren von der Jungfrau Maria: Ich glaube. 14 Betrachtungen zum Apost. Glaubensbekenntnis, Würzburg 1975, 39-49. – Die Vollendung Marias, in: Marian. Korrespondenz 24 (Leutesdorf 1975, Heft 9/10) 9-14. – Die marian. Prägung der Kirche, in: Maria heute ehren, hg. von W. Beinert, Freiburg 1977, S. 264-279. – Der dreifache Kranz. Das Heil der Welt im Mariengebet, Einsiedeln 1977. – Die Antwort der Frau, in: Ders., Theodramatik II, 2 (Die Personen des Spiels), Einsiedeln 1978, 260-331. – Maria, Kirche, Amt, in: Ders., Kl. Fibel für verunsicherte Laien, Einsiedeln 1980, 65-75. – Maria in der kirchl. Lehre u. Frömmigkeit, in: Maria, die Mutter des Herrn (= Die dt. Bischöfe, 18) 1979, 33-55. – Maria, Kirche im Ursprung (mit J. Ratzinger), Freiburg 1980 (41997); darin: Vorwort, S. 5 f.; Maria in der kirchl. Lehre u. Frömmigkeit, S. 41-79. – Das gebärende Weib, in: Ders., Die Apokalypse – Bilder der Bamberger Apokalypse, Stuttgart 1980, 125 f. – Vorwort zu: Joh. Paul II., Unter deinen Schutz. Mariengebete u. Betrachtungen, 1983. – Die Würde der Frau, in: Homo creatus est, 1986, 134-148. – Kommentar, in: Maria. Gottes Ja zum Menschen (Joh. Paul II., „Redemptoris Mater“), 1987, 129-143. – Maria für heute, Freiburg 1987 (70 S.; 82016). – Kreuz und Kirche, in: Theologie der drei Tage 1990, S. 125-133. – Maria. Kirche im Ursprung, 41997 (erw. Ausgabe); darin zusätzlich: Die marian. Prägung der Kirche (S. 112-130); Empfangen durch den Hl. Geist, geboren von der Jungfrau Maria (131-141); Das Katholische an der Kirche (S. 142-159).

Literatur: Johann G. Roten, Im Zeichen der Ellipse. Ein Beitrag zur theol. Anthropologie Hans Urs von Balthasars unter bes. Berücksichtigung seines marian. Denkens, Dayton 1987. – Ders., Die marian. Menschtypen in H. Urs von Balthasar, in: Mater fidei et fidelium, Dayton 1991, S. 424-445. – Stefano De Fiores, Ästhetisch-Theolog. Modell bei H. U. v. Balthasar: Maria als strahlender Widerschein der Kirche, in: W. Beinert u.a. (Hg.), Handbuch der Marienkunde, Regensburg 1996, Bd. 1, S. 248-250. – H. Steinhauer, Maria als dramatische Person bei H. Urs von Balthasar, 2001 (mit Bibl.). – W. Löser, Kl. Hinführung zu Hans Urs von Balthasar, 2005. – Albert Lewis, Die Mariologie als Herzstück der responsor. Ekklesiologie, in: Responsorisch Kirche sein. Antwortgestalt u. Sendung der Kirchen nach H. Urs v. Balthasar, Münster 2007, S. 89-122. – Stefan Heße, Maria – Mensch u. Kirche im Ursprung. Mariolog. Leitlinien im Werk von H. Urs von Balthasar, in: Spes nostra firma (FS Kardinal J. Meisner). Hg. von Th. Marschler u. a., Münster 2009, S. 125-138. – I. Kuhr, Gabe und Gestalt. Theolog. Phänomenologie bei H. Urs von Balthasar, 2012. – Na Hyungsung, Die Antwort. Maria als „locus theologicus“ im Denken u. Werk Hans Urs v. Balthasars, Würzburg 2019. – G. Wozniak, Göttliche Erlösung u. geschöpfl. Partizipation. Die mariolog. Dimension des Paschamysteriums bei H. Urs v. Balthasar, Regensburg 2021. (WW. u. Lit.: A. Dittrich, 22.7.2024)