MARIENLEXIKON

Einhorn (Symboltier)

Art. „Einhorn“, in: ML II, 304-308 (1989), von Genoveva Nitz, überarbeitet Mai 2024

Einhorn (unicornis, alicorne, licorne, monoceros, monizirus usw.), ein Fabeltier, dargestellt im MA als gazellen- oder pferdeähnliches Wesen mit einem langen, gewundenen, spitz zulaufenden u. schräg nach vorne stehenden Horn. Unter den assoziierten Sinnbildern aus dem Bereich der Natursage kommt dem E. eine Sonderstellung zu. Zusammen mit -> Löwe, -> Phönix und -> Pelikan gehört es zu einer Gruppe häufig dargestellter Symbole, die im MA mit den atl. Präfigurationen -> Aaronstab, brennendem -> Dornbusch, geschlossener -> Pforte und Vlies -> Gideons auf die Menschwerdung Christi bezogen wurden. Anders jedoch als die übrigen Tiersymbole, die weitgehend dem Verband typolog. Schemata — etwa in der Kathedralplastik u. -glasmalerei oder in Beispielsammlungen wie der Concordantia Caritatis von Ulrich v. Lilienfeld oder dem -> »Defensorium inviolatae virginitatis b. Mariae« von Franz v. Retz — untergeordnet bleiben, zeigt das E.motiv eine Entwicklung zur eigenständigen Darstellung, der „Mystischen Einhornjagd“, welche die Verkündigung Mariae allegorisiert. Die breite Rezeption dieser Darstellung, die im 15. u. frühen 16. Jh. nicht nur als Altarbild, Wandmalerei u. Glasfenster in Kirchen begegnet, sondern ebenfalls bei Frömmigkeitszeugnissen eher privaten bzw. volkstüml. Charakters — z.B. als Illustration in Gebet- u. Betrachtungsbüchern oder als Motiv für Formmodeln, Ofenkacheln u. Versehtücher — erklärt sich nicht zuletzt durch die Gängigkeit des E.motivs auch im profanen Bereich.
Das E. gehört zu den ältesten Sinnbildtieren. Mythol. Symbolkraft, polyvalente Bedeutung u. märchenhafte Eigenschaften kennzeichnen das einhörnige Tier in den alten Kulturen des Orients (Indien, China) und in den Berichten der griech. u. röm. Antike (Ktesias, Megasthenes, Plinius, Aelian). Das im AT hebräisch als re’em bezeichnete Horntier (nicht erzhörniges Tier, wahrscheinlich der Wildochse) wurde in der Septuaginta als μονόχερως übersetzt, vielleicht weil die Schilderung seines Wesens als stark, ungebärdig u. unzähmbar (Ps 21,22; Ps 28,6; Ps 91,11) den von heidn. Autoren betonten Eigenschaften des E.s zu entsprechen schien. Die lat. Bibelübersetzungen benützen dafür drei Äquivalente — unicornis, rhinoceros, monoceros — »ohne daß sich aus dem Textzusammenhang die Wahl des jeweiligen Wortes begründen ließe« (H. Brandenburg, In: RAC IV 856f.). An die Vorstellung der Einzigartigkeit u. Unbesiegbarkeit des E. knüpfen frühe patrist. Deutungen als Sinnbild Christi an. Schon bei -> Justinus wird das Horn mit dem Kreuz verglichen. Ferner steht es für die Eine Macht, die Christus mit dem Vater besitzt; das E. wird mit dem Eingeborenen Sohn gleichgesetzt (vgl. Salzer 46ff.; RAC IV 846ff.). Von größter Bedeutung für die ma. Auslegung ist der -> Physiologus, der die Geschichten vom Fang des Tiers und von der Heilkraft seines Horns überliefert: »Es ist ein kleines Tier wie ein Böckchen, doch der Jäger kann ihm nicht nahe kommen, weil es so stark ist. Ein Horn hat es mitten auf der Stirn. Wie jagt man es nun? Eine reine Jungfrau setzt man ihm in den Weg, und es springt ihr in den Schoß, und sie streichelt das Tier und führt es in den Palast des Königs. Das Tier wird auf die Person unseres Heilands gedeutet. Denn es hat aufgerichtet ein Horn des Heils im Hause Davids, unseres Vaters, und wurde uns zum Horn des Heils. Nicht vemochten Engel und Mächte ihn zu bewältigen, sondern er ging ein in den Leib der wahrhaftig reinen Jungfrau Maria. Und das Wort ward Fleisch und wohnt unter uns … In jenen Gegenden ist ein großer See, dorthin kommen die Tiere zum Trinken. Ehe jedoch die Tiere kommen können, zieht die Schlange aus und speit ihr Gift in das Wasser. Die Tiere nun spüren das Gift und wagen nicht zu trinken. Sie warten auf das Einhorn. Es kommt und geht sogleich in den See hinein und schlägt ein Kreuz mit seinem Horn und macht die Wirkung des Giftes zunichte. Und nachdem das Einhorn getrunken hat, trinken auch alle anderen Tiere« (vgl. Treu 43 f.).
Beide Geschichten enthält der höfische Teppichzyklus in den Cloisters (New York), der um 1500 vielleicht als Hochzeitsgeschenk für Anne de Bretagne geschaffen wurde. Der ganze Zyklus, besonders das letzte Bild mit dem in einem blühenden Garten gefangenen E., zeigt jenes Ineinandergreifen sakraler u. profaner Bezüge mit gegenseitiger Motiventlehnung, das für die E.thematik so bezeichnend bleibt. Das edle weiße Tier, nach den vorhergehenden Szenen der Entgiftung des Wassers, der Jagd u. des Todes wieder zum Leben erweckt, symbolisiert den auferstandenen Christus im Paradies. Zugleich, da es durch eine »chaîne d’amour« an einen Baum gekettet ist, steht es für den durch Liebe gefesselten u. geläuterten Bräutigam. Letztlich ambivalent bleibt die Überlagerung der versch. Sinnschichten.
Wichtig für die Marienikonographie ist die Fanggeschichte. Diese geht auf altoriental. Erzählungsstoff zurück. Die indische Legende des Asketen Rsyasrnga (Ekasrnga) weist Parallelen zur Physiologus-Geschichte auf (Text bei Hörisch 13 ff.). In der christl. Auslegung, die, dem Physiologus folgend, durch ma. Enzyklopädien u. Bestiarien, geistl. Dichtung u. Homiletik tradiert u. bereichert wurde, ist der erotische Gehalt der Erzählung zur Allegorese der göttl. Minne u. Menschwerdung Christi sublimiert. So bei dem Mystiker Heinrich -> Seuse: »Du, rote Rosen und alle Lilien Überstrahlende, wie mag dann der himmlische König von deiner lauteren Reinheit, von der sanftmütigen Demut, von der wohlriechenden Apotheke aller Tugenden und Gnaden so wohl gefangen werden! Oder wer hat das wilde Einhorn gefangen als du? Welch unergründliches Wohlgefallen hat in seinen Augen vor allen Menschen deine minnigliche, zarte Schönheit gefunden …« (Büchlein der ewigen Weisheit II 16; zitiert nach: Des Mystikers Heinrich Seuse OP dt. Schriften, hg. von N. Keller, 1926, 245).
Während -> Albertus Magnus sich zur Fanggeschichte eher vorsichtig in seiner naturwiss. Abhandlung »De animalibus XXII 2 105« mit dem Vorsatz »Dicunt« äußert, hebt -> Konrad v. Megenberg in seinem um 1350 kompilierten »Buch der Natur« den Inkarnationsbezug hervor. Konrad, der auch sonst marian. Symbolik u. Gebete in seine Naturerklärungen gerne einflechtet, betont die Anziehungskraft der Keuschheit: »Wenn das Einhorn daherkommt, so legt es all seine Grimmigkeit ab und verehrt die Reinheit des keuschen Leibs an der Jungfrau.« Die Fabel der Bezwingung durch die Jungfrau lieferte den Stoff zu weitausholenden sakralen u. profanen Ideenverbindungen. So kann das E. allein oder die E.-Jungfrau-Gruppe, je nach dem bildl. oder literar. Kontext, die Menschwerdung Christi, die Tugend der Keuschheit, die weltl. Minne oder die Weibermacht versinnbildlichen. Die jeweilige Deutung ist nur aus dem Zusammenhang ersichtlich. Wegen seiner Wildheit begegnet das E. ferner bei Darstellungen der Wildleute. Weil man bis in die Neuzeit an die Existenz des E.s glaubte, erscheint es selbstverständlich mit den anderen Tieren bei Darstellungen der Schöpfung der Welt und des Paradiesgartens. Daß der heilsgeschichtl. Bezug hierbei zum Ausdruck kommen kann, zeigt ein niederländischer Kupferstich der Vertreibung Adams u. Evas aus dem Paradies (17. Jh., Verlag Nicolas Vischer): Unmittelbar auf den Baum der Erkenntnis vom Guten u. Bösen, in dem sich zahlreiche Tiere des Unheils (-> Affe, Pfau, Uhu u. andere Raubvögel) niedergelassen haben, richtet das auffallend große E. das »Horn des Heils« zum Zeichen der kommenden Erlösung auf. Auf die Inkarnation weist es bei Bildern der Geburt Christi hin (E.-Jungfrau-Gruppe mit weiteren Typologien im sog. Stammheimer Missale, um 1160/80; Bibel von Floreffe, um 1165, und eng verwandte Miniatur im Evangeliar von Averbode) und der Verkündigung Mariae (kleines E. unten zwischen Maria u. Gabriel schreitend: Antependium aus Stift Göß, Mitte 13. Jh.; Gewölbemalereien, um 1480, in den Kirchen in Fanefjord und Keldby in Dänemark; profane E.jagd unter Verkündigungsszene, Marienteppich aus Kloster Adelhausen, um 1400, Freiburg, Augustinermuseum; sakrale E.jagd in der Sockelzone einer Verkündigungsminiatur als allegor. Spiegelbild der Hauptdarstellung, Gebetbuch Herzog Wilhelms IV. von Bayern, 1535, Wien, Österr. Nationalbibl.). Als Sockeldekor zieren E.bilder die prachtvollen, kompositorisch aufeinander bezogenen Miniaturen der -> Heimsuchung u. der Versöhnung der himml. Tugenden im Stundenbuch des Kardinals Alessandro Farnese, ausgeführt von Giulio Clovio (1546 vollendet). Attributiv begegnet das Tier bei Darstellungen der Mutter u. Kind (E.-Jungfrau-Gruppe als Bekrönung eines M.bilds, Goldglas-Tafel des 15. Jh.s in Paris, Musée Nationale du Moyen Âge, ehem. bekannt als Musée de Cluny; Madonna mit der Nelke, Umkreis v. Gerhard David um 1500, Rom, Galleria Colonna. In der Concordantia caritatis wird die E.fabel. der Traumerscheinung des Engels an Joseph zugeordnet. Die weiteren Korrespondenzen dieser Gruppe: David verbirgt sich vor Saul; das Weib, mit der Sonne bekleidet, in Wehen; Saphire können Karfunkel umschließen. Auch vom E. glaubte man, sein Horn verberge einen Karfunkelstein (Verbindung der Karfunkel- u. E.motive zuerst im »Alexanderlied« des Pfaffen Lamprecht um 1160, danach im »Parzival«-Epos Wolframs v. Eschenbach). Eingegrenzt wird der Sinn der E.- Jungfrau-Gruppe in Illustrationen zum Defensorium, da die Betonung hier auf das Wunderbare der Fangfabel an sich liegt, die lediglich als eins unter mehreren Exempeln mit dem Wunder der Jungfrauengeburt verglichen wird: „Rinoceron si virgini se inclinare valet / Cur verbum patris celici virgo non generaret?“
In den Tafelbildern sind die Exempel um ein Mittelbild der Geburt Christi gruppiert (Votiv der Familie Heuperger, 1426 datiert, im Zisterzienserstift Stams; Tafel aus Ottobeuren, Mitte 15. Jh., Füssen, Gemäldegalerie). Auch sämtl. illustrierte Handschriften u. Druckausgaben enthalten Darstellungen der Geburt Christi oder der Verkündigung (Buchmalereien, 1459 im Kloster Tegernsee bzw. 1472 im Kloster Ebersberg angefertigt, jetzt München, Bayer. Staatsbibl., clm 18077 bzw. clm 706; Blockbücher und typograph. Ausgaben zwischen 1470 u. 1490). Ein den Defensoriumstafeln nahestehendes, aber einfacheres Schema regelt den Aufbau einer Gruppe typolog. Bilder des 15. Jh.s, die die Inkarnation Christi u. die virginitas perpétua Mariae mit meistens vier atl. Figuren und vier Naturexempeln aus dem Physiologus — E., Löwe, Pelikan, Phönix — versinnbildlichen (sog. Tafel der marian. Geheimnisse, um 1420, Bonn, Rheinisches Landesmuseum; Epitaph des Rektors Friedrich Schön, + 1464, Nürnberg, Lorenzkirche; Gewölbemalerei, um 1480, in der Kirche von Risinge in Östergotland, Schweden). Die erläuternden Schriftbänder beziehen sich auf eine lat. Version des Physiologus in 27 Kapiteln, die unter dem Namen »Dicta Chrysostomi« verbreitet wurde, also als vermeintl. Text des Kirchenvaters Chrysostomus Autorität genoß. Zum E. heißt es: »Unicornis sum significoque Deum. Virgineis digitis capienda fit haec fera mitis.« Die Handhabung der Typologie ist nicht immer so offenkundig, wie in diesen Beispielen. Jan van Eycks Dresdner Triptychon von 1437 zeigt eine subtilere Integrierung der Regelgruppe E., Löwe, Pelikan und Phönix in eine freie Komposition mit Muttergottesbild: Den Thron Mariens in einem prächtigen, kirchenähnlichen Raum zieren fingierte Skulpturen mit Pelikan u. Phönix, während winzige Einhörner u. Löwen zur Ornamentik des reich gemusterten Brokatvorhangs im Hintergrund gehören. Im Epiphaniebild aus dem Wildunger Altar des Konrad v. Soest (1403) hat der mittlere König ein Pektorale mit E.zier. In der erweiterten Epiphanie des Kölner Dombilds von S. Lochner, wie in der Rosenhagdarstellung des gleichen Malers (Köln, Wallraf-Richartz-Mus.) trägt Maria selbst ein Schmuckstück mit E.- Jungfrau-Gruppe als kostbarem Miniaturbild. Die Jungfrau der E.-Jungfrau-Gruppe in den genannten typolog. u. attributiven Darstellungen ist sinnbildlich auf Maria bezogen, nicht aber mit Maria zu identifizieren. Wie J. W. Einhorn feststellt (199), bleibt die Darstellung der nimbierten und durch sonstige Attribute ausgezeichneten Maria allein mit dem E. überraschend selten: Siegel einer Urkunde des Klosters Maria Stern, 1352, jetzt im Stadtarchiv Augsburg; Relief am Chorgestühl der Klosterkirche zu Maulbronn, um 1450. Nach einer heute übermalten Wandmalerei um 1350 in der Pfarr- u. Wallfahrtskirche zu Welschingen (Baden) — wo das Bestehen einer »Bruderschaft des Aingehirns« für das Jahr 1456 urkundlich belegt ist — wurde 1903 das Welschinger Gemeindewappen geschaffen. Es zeigt die thronende Maria auf der Mondsichel, ein kleines E. auf dem Schoß haltend.
In einer poet. Umwandlung des Stoffes wird der Fang des Einhorns als Allegorie der Inkarnation zur „Mystischen Einhornjagd“. Das Thema wird im Spät-MA beliebt im dt. Sprachgebiet, besonders im thüringischen, niedersächsisch-holsteinischen u. oberrheinisch-schweizerischen Raum. Zugrunde liegt eine Auslegung der E.fabel, die literarisch in der „Goldenen Schmiede« des -> Konrad v. Würzburg (+ 1287) aufkommt und sich in Betrachtungen, Predigten, volkstüml. Dichtungen, geistl. Spielen u. Liedern bis ins 17. Jh. hinein verfolgen läßt (Stammler 136 f.; J. W. Einhorn 199 ff., 205-212). Eine motivische Verschiebung des Fabelstoffs macht Gottvater zum »Himmeljäger«, der »des Himmels Einhorn« zum »Sündenwald« auf die Erde treibt. Dort findet es im Schoß Mariens Zuflucht. Die Bildüberlieferung der sakralen E.jagd setzt im frühen 15. Jh. ein. Zu den ersten Zeugnissen zählen zwei thüring. Tafelbilder — jeweils das Hauptbild eines Triptychons — im Dom zu Erfurt um 1420 u. im Weimarer Schloßmuseum um 1430/40. Die Bildtradition vermeidet die Darstellung von Gottvater als Jäger. Der Jagdauftrag wird von Gabriel, dem Engel der Verkündigung, ausgeführt. Mit Spieß u. Hifthorn ausgestattet und von Jagdhunden begleitet, verfolgt er das fliehende E. bis zum geschlossenen Garten Mariens. Die heute bekannteste Darstellung des Themas ist wohl die oben erwähnte, sehr qualitätvolle Erfurter Tafel. Diese bezieht jedoch Ensembles musizierender Engel u. mehrere Heiligenfiguren ein, die die unverhältnismäßig große, frontal thronende Maria mit stark stilisiertem E. halbkreisförmig umgeben. Damit weicht diese Tafel erheblich von dem charakt. Bildtypus ab, der sich bald danach durchsetzt und durch zwei weitere Tafeln aus dem Erfurter Dombereich vertreten ist (Tafelbild um 1470/80, ehern, im Chorhals des Doms, jetzt im Kreuzgang; Tafelbild, 2. Viertel 16. Jh., ehern. Zimmer des geistl. Gerichts, jetzt in der Aula des Theol. Studiums). Die Figurenanordnung mit dem von der Seite eintretenden Engel lehnt sich eng an die nicht-allegor. Verkündigungsdarstellungen der Zeit an, die Szene wird aber aus der Kammer Mariens in die Symbolweit des durch Zinnenmauer oder Flechtzaun umschlossenen -> hortus conclusus versetzt. Auf Wiesengrund oder Rasenbank sitzend, empfängt Maria das E. mit schützender oder liebkosender Gebärde, während Gabriel das Horn mit dem englischen Gruß (Schriftband mit der Allocutio: »Ave gratia plena«) ertönen läßt. Mindestens ideell ist die Vorstellung der »conceptio per aurem« hier vorhanden. Die Jagdhunde, meistens drei oder vier an der Zahl, sind inschriftlich genannt als »fides, spes« und »caritas«, die drei Kardinaltugenden oder »misericordia, veritas, pax« und »iustitia«, die vier im Ps 81,11 genannten Tugenden — eine Anspielung auf die altbekannte, von Bernhard v. Clairvaux in einer Predigt zum Fest Mariae Verkündigung zitierte Erlösungsparabel der »litigatio sororum«, der streitenden Tugenden, die durch den göttl. Ratschluß versöhnt wurden (Stammler 48-52, 138-148). In einem von Gottvater ausgehenden Gnadenstrahl gleiten die Taube des Hl. Geistes und das kreuztragende Jesuskind hinunter zu Maria. Bei einer seltenen Variante kommt das Jesuskind auf dem E. geritten (Wandmalerei um 1500 in der Frauenkirche, Memmingen; Versehtücher, 1. Hälfte 16. Jh, wohl schweizerischer Herkunft, jetzt in Bregenz, München u. Zürich). Den übergreifenden heilsgeschichtl. Bezug betont die Verbindung mit der -> Wurzel Jesse (oberrhein. Tafelbild aus dem Umkreis des Meisters E. S., um 1470, RDK Abb. 8; Stickereien aus Kloster Isenhagen, 2. Hälfte 15. Jh.). Mit der Einführung eines zweiten Jägers, der dem E. den Todesstoß versetzt, erfährt das Thema eine Verdichtung der Symbolik, die den Opfertod Christi stärker in den Vordergrund stellt (gewirktes Antependium aus der Hl.-Kreuz-Kapelle in Lachen, 1480, jetzt Zürich, Schweiz. Landesmus.). Während Gabriel mit den vier Hunden draußen vor der Umfriedung verharrt, tritt die kl. Figur des Adam, der inmitten der Pracht des Symbolgartens sehr gering erscheint, neben Maria her und stößt dem E. die Lanze in die Brust. Auf seinen Spruch: »Ipse autem vulneratur est propter iniquitates nostras« antwortet Eva, die das Blut des E.s in einem Kelch auffängt (vgl. -> Ecclesia): »Et livore eius sanati sumus.« In dieser Handlung sieht JW. Einhorn (202 f.) eine Anspielung auf eine aus den »Gesta Romanorum« bekannte und auf Sündenfall u. Erlösung gedeutete Geschichte von zwei Jungfrauen (Eva u. Maria), die ein E., bzw. in früheren Versionen der Erzählung einen -> Elefanten, mit ihrer Schönheit u. ihrem Gesang locken; sie töten das Tier und fangen sein Blut in einem Becken auf (Text bei Stammler 107f.). Die Thematik des Lachener Antependiums wird noch in der ref. Zeit weiter tradiert; die späteste bekannte Darstellung des Typus trägt das Datum 1634 (Zürich, Schweiz. Landesmus.). Für den Zeitraum vom Anfang des 15. Jh.s bis zur Mitte des 16. Jh.s hat J. W. Einhorn mehr als 100 Darstellungen der sakralen E.jagd als Wand- u. Tafelmalerei, Altarreliefs, Textilarbeiten (bes. häufig), Buchmalerei, Metall- u. Holzschnitte, Glockenreliefs, Formmodeln zu versch. Zwecken, Lederprägungen u. Metallarbeiten aufgelistet. Außerhalb des dt. Sprachgebiets scheint das Thema nur in Skandinavien verbreitet zu sein. Das große, etwa 10 m breite Fresko von Giovanni Maria Falconetto in San Pietro Martire in Verona, das den Defensoriumstoff miteinbezieht, entstand 1514 im Auftrag der Hofräte Kaiser Maximilians, H. Weyneck und K. Kunigl. In Frankreich begegnet das Thema eher beiläufig als Zwickelfüllung en grisaille im Rahmenwerk der »Madonna im brennenden Dornbusch« von Nicolas Froment, 1476, in der Kathedrale von Aix. Die englische M.dichtung im Spät-MA kennt die Gestalt des hornblasenden Jägers Gabriel: „By hyring of a Angels horn / A mansuete message was the amydde / Godys moder to be callyd …“ (Religious Lyrics of the XVth century. Ed. Carleton Browne, Reprint 1962, 50). Auch der volkstümliche Name „Gabriel’s Hounds“ für bestimmte Vögel (Ziegenmelker u. Brachvögel, vgl. Brewer’s Dictionary of Phrase and Fable; Revised by I. H. Evans, 1977, 444) lässt auf eine breite Bekanntschaft des Stoffs schließen. Die oft wiederholte Angabe, das Bildthema der sakralen E.jagd sei im Konzil von Trient verboten worden, ist irrig (hierzu ausführlich J. W. Einhorn, 267 ff.). Der Rückgang dieses Themas nach dem MA hängt eher mit einem neuen Verständnis des Marienbildes zusammen. Die Idee der UE rückt in den Vordergrund, das meditative Bild des hortus conclusus weicht der triumphalen Vorstellung der -> Immaculata.
Das E. als Reinheitssymbol erscheint weiterhin in profanen Allegorien (Piero della Francesca, Giorgione, Domenichino) und emblematischen Figuren (Ripa, Camerarius) sowie Heiligendarstellungen (Moretto, Cranach, Asam). Für die Assoziation Mariens mit dem E. bietet das naturwiss. Schrifttum ein interessantes Zeugnis, das die Kenntnis bildl. Darstellungen noch im späten 17. Jh. voraussetzt. In der 1669 erschienenen Bearbeitung des Tierbuchs Conrad Gesners heißt es zum E.fang: Einhorn 308 »Also halte ichs für ein Gemaehl / wie mä“ es Maria in den Schooß mahlet / zum Zeichen ihrer Reinigkeit« (Gesnerus Redivivus auctus & emendatus. Oder: Allgemeines Thier-Buch …, Frankfurt 1669, 78). Auch in der Predigtliteratur wird Maria als E.jungfrau gepriesen (s. H. Schnell, Die Patrona Boiariae u. das Wessobrunner Gnadenbild, In: Das Münster 15 [1962] 202). Eine Variante der E.jagd, ohne die üblichen Symbole der hortus-conclusus-Darstellungen, dient zur Illustration des Rufs »Virgo potens« in einer Stichfolge der Lauretan. Litanei aus dem Jahre 1636. Im 18. Jh. zeigt ein Stich von Klauber nach Entwurf von G. B. Göz den Rückgriff auf die alten Naturexempel Einhorn (Text: Virginis in gremio quiescam), Phönix (Sine conjuge mater) u. Perlmuschel (Coelo faecunda marito). J. M. Seidl stellt eine E.jagd dar in dem marian. Gemäldezyklus der Pfarrkirche Mariä Himmelfahrt zu Deggendorf, 1728. In der Wappenkartusche des Ettaler Abts Benedikt III. Pacher, gemalt 1752 von J. J. Zeiller, verneigt sich ein pferdeähnliches E. vor dem Ettaler Gnadenbild der GM — eine elegante Anknüpfung an die Legende der Klostergründung durch ein weisendes Pferd.
Die Wiederentdeckung des Symbols in unserer Zeit hat interessante Neuformulierungen hervorgebracht: In Literatur (Rilke, Sonette an Opheus 2, IV; Hilde Domin, „Einhorn“) und Musik (Giancarlo Menotti, „The Unicorn, the Gorgon and the Manticore“; Wilfried Hiller, „Buch der Sterne“) sowohl als in der Bildenden Kunst. HAP Grieshaber verweist auf die marian. Deutung des Einhorns in seinem Wandteppich (1962) in der Kirche des Guten Hirten in Friedrichshafen. Sinnbilder der -> Lauretan. Litanei (u.a. geheimnisvolle Rose, goldenes Haus, Pforte des Himmels) verbinden sich mit dem Lobpreis der Schöpfung, in dem sich symbolträchtige Tiere (Einhorn, Pfau, Taube u. Pelikan) zusammen mit der einheimischen Fauna (Fuchs, Katze, Hase u. Wiesel) erscheinen. Das Einhorn-Fenster des Glasmalers Ernst Alt in der Pfarrkirche St. Ludwig in Saarlouis verknüpft viele Bezüge: Die Inkarnation u. Passion Christi, den Kampf gegen das Böse (Schlange) und die Reinigung des Wassers durch das Horn des Heils; schließlich veranschaulicht das Zitat „A mon seul désir“ aus dem berühmten Einhorn-Teppichzyklus im Musée Nationale du Moyen Âge, Paris, jene Verquickung des Sakralen u. Profanen, die auch für die Ikonographie des MA so charakteristisch war (Abb. in: Das Münster 42 [1989] 28).

Literatur: RDK IV 1504-44. – RAC IV 840-62. – LCI 2 590- 592. – Salzer 44–50. – T. H. White, The Bestiary. A Book of Beasts, 1954. – W. Stammler, Spätlese de MA II. Religiöses Schrifttum, 1965. – R. R. Beer, Einhorn. Fabelwelt u. Wirklichkeit, 3/1977. – L. Kretzenbacher, Mystische Einhornjagd. Deutsche u. slawische Bild- u. Wortzeugnisse zu einem geistl. Sinnbildgefüge, 1978. – D. Forstner, Die Welt der christl. Symbole, 5/1986. – J. Hörisch (Hg.), Das Tier, das es nicht gibt. Eine Text- u. Bild-Collage über das Einhorn, 1986. – Der Physiologus. Übertragen u. erläutert von O. Seel, 5/1987. – Physiologus. Naturkunde in frühchristl. Deutung. (Hrsg. U. Treu), 2/1987. – G. E. Sollbach, Das Tierbuch des Konrad von Megenberg, 1989. – J. Einhorn, Spiritalis Unicornis. Das E. als Bedeutungsträger in Literatur u. Kunst des MA, 2/1990. – Bestiary. Translated by R. Barber, … Bodleian Library, Oxford, MS Bodley 764, 1993. – Einhorn u. Nachtigall, Die schönsten Miniaturen aus dem Tierbuch des Petrus Candidus. Texte übers. v. A. Müller u. Chr. B. Müller, 1993. – W. Hagenmeier, Das E. Eine Spurensuche durch die Jahrtausende, 2003. – C. Heck / R. Cordonnier, Bestiarium. Das Tier in ma. Handschriften, 2020. F. Schäfer / J. Pisarek, Fabeltiere. Tierische Fabelwesen der dt. Mythen, Märchen und Sagen, 2023.