MARIENLEXIKON

Böhmische Madonnen

ML-Artikel „Böhmische Madonnen“, von Heinz v. Mackowitz (Bd. 1, 1988, S. 525 f.)

In der Zeit Karls IV., da Prag Brennpunkt europäischer Kultur wurde, erlebte die böhmische Malerei ihren Höhepunkt. Damals wurde auch das halbfigurige Marienbild nördlich der Alpen heimisch. Dabei spielten die Beziehungen des kaiserlichen Hofes nach Wien, Paris und Avignon, das Heranziehen ital. Künstler, wie Tommaso da Modena, eine wichtige Rolle; letztere vermittelten Beispiele italo-byz. Ikonen.
Der Marienkult erfuhr durch den Kaiser und einige Männer seiner Umgebung eine besondere Stärkung. -> Karl IV. machte viele Stiftungen zu Ehren Mariens. Sein Kanzler Johann v. Neumarkt schrieb selbst Gebete und Marienlieder; auf Anregung von Erzbischof Ernst v. Pardubitz entstand das berühmte »Lectionarium mariale«. Auch die als Bildungszentren hervorragenden neugegründeten Klöster der reformierten Augustiner-Chorherren (durch Bischof Johann v. Draschitz aus Italien eingeführt) sowie das von Karl IV. gestiftete Kollegium der Mansionäre bewirkten ein starkes Aufleben der MV. Daraus sind die zahlreichen Mariendarstellungen der böhm. Kunst zu erklären. Wenn auch Maria in versch. zyklischen Darstellungen (z.B. Hohenfurt, Stiftskirche) erscheint, so haben doch jene Bilde Marias mit dem Kind als Halbfigur, oftmals gerahmt von einer gemalten Leiste mit Heiligenfiguren oder Szenen aus dem Marienleben, die größte Popularität und nachhaltigste Wirkung gezeitigt. Sie lassen sich auf einige Archetypen zurückführen, die von italo-byz. oder byz. ostkirchlichen Vorbildern abhängig sind; letztere wohl u.a. durch orth. Mönche vermittelt, die Karl IV. in das Prager Emmauskloster berufen hatte. Innerhalb dieser Reihe ist die Tendenz zu einer immer stärkeren Vermenschlichung, das Streben nach verklärtem Ausdruck und nach Schönheit der Form zu spüren, wie auch das immer weitere Abrücken von hieratischer Strenge. Alle diese Madonnen waren Gnadenbilder oder Kopien von solchen; die meisten befinden sich jetzt in der Nat.Gallerie zu Prag. Die »Brüxer-Madonna« (vor 1350, Brüx, Kapuzinerkirche), eine Kopie nach dem byz.-ital. Vorbild der »Madre di Consolazione«, trägt das Maphorion; das halb liegende Kind, in ein Brokatkleidchen gehüllt, hält im rechten Händchen einen Vogel, das linke umfaßt den Daumen Mariens. — Aus dem Kreis des Hohenfurther Meisters stammt die Madonna aus Burg Eichhorn (Mähren), um 1350, eine bereits selbständige Arbeit. Das aufrecht sitzende Kind hält in der rechten Hand den Vogel und umfaßt gleichzeitig den Daumen der gekrönten Maria; mit der Linken greift es nach ihrem Kopfschleier. — Ihr verwandt ist die gleichzeitige »Strahover Madonna« mit lebhaft bewegtem Kind sowie die »Glatzer Madonna« (Berlin), eine Höchstleistung des Kreises des Meisters von Hohenfurt; sie ist umgeben von Engeln, die einen Vorhang hinter ihr ausspannen, Weihrauchfässer schwingen, einen zweiten Reichsapfel und die Krone halten. Das Kind, im Brokatkleidchen, umgreift mit der Linken den Zeigefinger der Mutter. Zu ihren Füßen kniet der Stifter, Ernst v. Pardubitz. Diese Madonna war das Mittelstück des Altars der Augustinerklosterkirche (De Verkündigung in -► Glatz; die Flügel mit Szenen aus dem (Dieben sind verloren. — Die Madonna im Königsaal (um 1360, Zbraslav, Pfarrkirche) variiert das Vogelmotiv: das Kind im durchsichtigen Hemdchen drückt ihn an die Brust. — Die gleichzeitige Madonna aus Rom, eine vereinfachte Miniaturvariante dieses Typus, erscheint schon gelöst von ital. Einfluß und nähert sich dem »weichen Stil«. Der Vogel zwickt das Kind in den Finger; es umklammert das Handgelenk der Mutter. Einen weiteren Schritt auf dem Wege zu einer menschlich beziehungsvollen Darstellung bedeutet die »Bostoner Madonna« (Boston, Mus. of Fine Arts); wohl der rechte Teil des Flügelaltärchens, Maria im Maphorion, umfaßt das halb liegende Kind, das nach ihrem Zeigefinger greift. — Die Madonna des Wiener Diptychons (Gegenstück zum Schmerzensmann, Kunsthist. Mus.), wiederum gekrönt, vom Typus der byz. Plagonitissa (einer Weiterbildung der -► Eleusa), schmiegt ihre Wange an das Köpfchen des Kindes. — Auf ital. Vorbilder geht die Vysehrader Madonna zurück (auch »Regenmadonna«, so benannt seit dem 18. Jh. nach Bittprozessionen um Regen; Prag, Kollegiatskirche St. Peter und Paul), eine in Böhmen sonst nicht vorkommende Maria dell’Umiltà. Sie sitzt auf einer Blumenwiese, ins Maphorion gehüllt, und stillt das in ein Goldbrokattuch gewickelte Kind. Die Mondsichel zu ihren Füßen und der Strahlennimbus mit Sternen sind Attribute der -> Apokalyptischen Frau.
Ein Pergamentbildchen von 1368 (Prag, St. Veit, Domschatz, ein Geschenk des Papstes Urban V. an Kaiser Karl IV.), ist eine Nachbildung des in der Kirche Aracoeli in Rom verehrten Gnadenbildes vom Typus der byz. Hagiosoritissa: Maria hebt eine Hand fürbittend und legt die andere auf die Brust. Es ist vielleicht das früheste der sog. »kleinen -> Andachtsbilder«, die eine so große Rolle als Vermittler ikonographischer Typen spielten. Eine Kopie dieses Bildchens ist die »Madonna Aracoeli« um 1400; ihr mit Propheten und weiblichen Heiligen bemalter Rahmen steht in engem Zusammenhang mit der Werkstatt des Meisters von Wittingau.
Die Madonna des St. Veitsdomes zu Prag ist den plastischen »Schönen Madonnen« nah verwandt. Sie neigt ihr Haupt dem nackten, halb liegenden Kind zu, das sie mit zierlichen Fingern zärtlich umfaßt. Ihr Typus ist stark verbreitet: sowohl die Madonna von Schlüsselburg (nach 1400, Klosterkirche), das Gnadenbild aus Goldenkron (um 1410), die ganzfigurige sitzende Md aus Neuhaus (um 1400) mit assistierenden Engeln und die Md des Augsburger Doms gehen auf sie zurück. — Die Madonna aus Raudnitz (vor 1410), auf den Typ der -► Hodegetria zurückgehend, repäsentiert auch den »Schönen Stil«, doch trägt sie eine Krone und hält das nackte Kind, das ihr die Ärmchen entgegenstreckt, auf der linken Seite; es sitzt auf ihrer vom Mantel verhüllten rechten Hand. Eine südböhm. Replik existiert in Böhmisch-Budweis (nach 1400, Stadtmuseum). Bei drei weiteren südböhm. Repliken Mariens aus Hohenfurth: im gemalten Rahmen mit Engeln, Heiligen und Stifter, mit der Abwandlung, daß ihre Hand nicht verhüllt ist; Madonna, Breslau erzbischöfliches Diöz.- Mus.; Md aus dem Jodokusspital, Krummau, Schloß) nach 1420 ist schon ein Abrücken vom System des Schönen Stils zu spüren: sie sind härter in der Form und dunkler in der Farbe. Dieser Typus hält sich am längsten; einige späte Beispiele: um 1440, Prag St. Stephan, im Rahmen Szenen aus dem Marienleben; um 1450, Md aus der Slg. Lanna; gleichzeitig, Schimetschek-Madonna, Böhm.-Budweis, Stadtmus., mit unverhüllter Hand; nach 1460, Neuhaus, Schloß; um 1470, Wien, Kunsthist. Mus.; Ende 15. Jh., Madonna aus Bfeznice, im Maphorion. — Die Md von St. Thomas (um 1420, Brünn, Landesmus.) vereinigt das Schema der Md von St. Veit (Haltung des Kindes) mit dem der Md von Raudnitz (Krone). Die Art, wie Maria das Kind hält, ist der Goldenkroner Md ähnlich; in der linken oberen Ecke Gottvater mit dem Spruchband, auf Maria herabdeutend; die gleiche Typenmischung zeigt die Md des Königs von England (um 1440, London, Buckingham Palace); das Kind im grünen Kleidchen hält einen Apfel. — Dem Typus der Hodegetria gehört wiederum die Md aus Doudleby bei Böhm.-Budweis an (um 1440), allerdings mit kleinen Abweichungen (ein Buch in der Hand des Kindes).
Eigenartig ist eine Gruppe stehender Md mit Attributen der Apokalyptischen Frau: die früheste auf einem Altarflügel aus St. Magdalena (nach 1400, Prag Nat. Gallerie). Sie steht auf einer Mondsichel mit zu Boden gekehrtem Gesicht; in ihrer Krone eine Art Mitra; das Kind hält einen Apfel. Die Madonna aus der Slg. Lanna (um 1450), in der linken Hand ein Szepter, steht im Strahlenkranz vor einem Busch, der wohl als -► Dornbusch, Symbol der Jungfräulichkeit Marias, zu deuten ist. Im blühenden Busch steht auch die gleichzeitige Md aus Destna; Engel, die Spruchbänder mit den Anfangsworten der marian. Antiphonen halten, setzen ihr die Krone auf. Bei der Md vom Weißen Berg fehlt der blühende Busch; in den Ecken die vier Evangelisten, an den Seiten Engel mit Spruchbändern.

Literatur: W. Gumppenberg, Marian. Atlas oder Beschreibung des marian. Gnadenbildes durch die ganze Christenwelt, Prag 1717. — R. Ernst, Beiträge zur Kenntnis der Tafelmalerei Böhmens, Prag 1912. — E. Wiegand, Die böhm. Gnadenbilder, Diss. 1936. — A. Stange, Dt. Malerei der Gotik I, 1934; II, 1936. — A. Matëjëek und J. Peèina, Got. Malerei in Böhmen, 1955. — V. Denkstein u. F. Matous, Südböhmische Gotik, 1955. — A. Friedl, Magister Theodoricus, 1956. — M. Hamsik, Die Technik der böhm. Madonnenbilder um 1350—1360, In: Umeni 26 (1978) 529 ff. — Ausstellungskatalog, Die Parler und der schöne Stil, Köln 1980. – R. Haller, Böhm. Madonnen in Bayern: Kunstgeschichte u. Volkskunde um die bekannten Pribramer Holzfiguren, 1991.