MARIENLEXIKON

Bernhard von Clairvaux

Artikel „I. Leben und Werk“ im Marienlexikon, Bd. 1 (1988), S. 445-447, verfasst von Helmut Riedlinger, in Überarbeitung des Artikels von Otto Stegmüller, in: Lexikon der Marienkunde (1967) Sp. 710-715; überarbeitet und aktualisiert von Prof. Dr. Michael Stickelbroeck (23.8.2023)

Bernhard von Clairvaux OCiSt, Abt, Kirchenlehrer, *1090 in Fontaines-lès-Dijon, † 20.8.1153 in Clairvaux.

I. Hinführung: Es war der eigentliche Impetus der Erneuerungsbewegung von Cîteaux, die Bernhard durch seine Predigten, sein Schrifttum und seine Klostergründungen voranführte, Mönche zu einem Leben in der schweigsamen Abgeschiedenheit eines Klosters in der Stille der Meditation, der Handarbeit und des gemeinsamen Lebens und Betens an zu leiten. Monastische Theologie, in deren Tradition Bernhard steht, nährt sich von der betenden Lectio der Hl. Schrift, die im Vollzug klösterlichen Lebens einen zentralen Platz einnehmen soll (vgl. J. Leclerq, Bernard et la Théologie monastique du XII siècle, in: ACi 9 [1953] 8). So gewinnen bei Bernhard die subjektive Aneignung und Durchdringung der religiösen Wahrheit das entscheidende Gewicht. Eine bloß intellektuelle Einsicht in den buchstäblichen Schriftsinn und auch eine bloß allegorische Erkenntnis der Glaubensmysterien wie sie die Schrift enthält, wäre dem Abt zu wenig. Diese würde zu sehr im Bereich des Objektiven verbleiben und das Herz unberührt lassen. Es wäre eine illusorische Erkenntnis, denn „in solchen Dingen versteht die Einsicht nichts, wenn die Erfahrung fehlt“ (SC 22, 2: Winkler V 306).
B.s theologische Aussagen über Maria müssen in den Kontext dieser Aneignung des Geheimnisses, wie sie für seine ganze Theologie prägend ist, situiert werden. Die wenigen Seiten, auf denen er explizit von Maria handelt, zeugen von seiner glühenden Verehrung und tiefen Frömmigkeit – Grund genug, ihn als „Doctor marianus“ zu bezeichnen (vgl. J. Leclercq 1990, 149 ff.)
II. Mariologische Schriften: Die schriftliche Hinterlassenschaft B.s über die Gottesmutter ist nicht sehr umfangreich: vier Homilien »De laudibus Virginis matris« (»Homiliae Super Missus est«, Winkler IV 32-123), die einen fortlaufenden Kommentar zu den Ereignissen der Verkündigung darstellen. Zum Fest der Purificatio hat B. drei Homilien hinterlassen (Winkler VII 404-425), drei weitere für Mariae Verkündigung (Winkler VIII 96-155), sechs für Assumptio (Winkler VIII 526-593), eine für den Sonntag in der Oktav von Assumptio (Winkler VIII 595-620), eine für Mariae Geburt (In Nativitate BM: De aquaeductu, Winkler VIII 621-647). In seiner Homilie für den Sonntag der Oktav von Assumptio M (Winkler VIII 594-619) hat er Maria nicht erwähnt. Einige kurze Notizen finden sich in den »Sermones de diversis« (Winkler, IX 166-833). Schließlich ist der berühmte Brief 174 über die Unbefleckte Empfängnis an die Kanoniker von Lyon noch zu nennen (Winkler II 1016-1025).
III. Maria im Heilsplan: Maria ist die Verheißene, durch die und in der Gott selbst beschlossen hat, unser Heil auf Erden zu bewirken (Winkler IV 52 f.). Er hat sie im Voraus erwählt, für sich vorbereitet und durch die Engel bewahrt (Winkler IV 23 f.; VIII 604 f.). Dies wird an zahlreichen Vorbildern und Titeln aus dem AT aufgezeigt.
IV. Leben Mariens: B. wertet alle Stellen des NT über Maria aus, um ihre Heiligkeit und ihre Tugenden ins rechte Licht zu stellen. Apokryphe Belegstellen verschmäht er. Aber er sieht sich nicht in der Lage, Marias Heiligkeit auf ihre Empfängnis auszudehnen. Denn er nimmt an, sie sei in Sünde empfangen und erst zwischen Empfängnis und Geburt geheiligt worden. Er will also der Gottesmutter nicht einen Titel beilegen, dessen sie seiner Ansicht nach nicht bedarf. Daher kämpft er im Brief an die Kanoniker von Lyon mit dem ihm eigenen Temperament gegen das Fest der Unbefleckten Empfängnis, »quam ritus Ecclesiae nescit, non probat ratio, non commendat antiqua traditio. Numquid Patribus doctiores aut devotiores sumus?« (Winkler II 1016; vgl. Manoir II 573; G. M. Roschini, 1953, 136-153; Barré 100-103).
V. Menschwerdung: Die Inkarnation bedeutet für Maria eine innigste Einigung mit Gott. »Gott hat aus seiner eigenen Substanz und aus der Jungfrau einen einzigen Christus gemacht« (Winkler IV 82; vgl. ebd. 106-110). Ausgehend von der Frau, die drei Maß Mehl mischte und ein einziges Brot bereitete, meint B.: diese drei Maß Mehl sind der Logos, die Seele und das Fleisch Christi. Im Schoße der Jungfrau hat sich die Einigung und Fermentation vollzogen. Die Gottesmutter hat das eine Brot durch ihren Glauben hervorgebracht (Winkler I 810). Die körperliche Seite des Geschehens setzt die geistige Einigung voraus, die durch den Willen vollzogene Liebeseinigung zwischen Geschöpf und Gott. Die himmlische Weisheit hat nicht nur ihre Seele, sondern auch ihren Leib ganz erfüllt, so daß sie den Gottessohn gebären konnte, den sie zuerst in ihrer Seele empfangen hatte (Winkler IV 82 f.). Daher konnte Maria so sehnlich nach Jesus verlangen und ihn so liebevoll aufnehmen. Das Fiat war nicht nur demütige Unterwerfung, sondern ebenso sehr Verlangen und Gebet (Winkler IV 118f). Der Mystiker B. sieht immer die ganze Jungfrau (Leib und Seele) und den ganzen Christus (Gott und Mensch) aufs innigste vereint. Aber die Inkarnation brachte zugleich den Einbruch der ganzen Fülle des dreieinigen Gottes in Maria. Um diese Fülle ertragen zu können, brauchte sie eine besondere Gnadenausstattung von Seiten Gottes (Winkler IV 108f. und VIII 600f.). Was im Augenblick der Menschwerdung geschah, kann nur Maria begreifen, aber auch sie kann es nur auf Grund einer besonderen Offenbarung Gottes (Winkler IV 106 f.).
VI. Mater Dei: Aus der Inkarnation folgt die erschreckende Größe Marias, ihre Würde als Gottesmutter (Winkler IV 42f.). Es gibt nicht einen Sohn des Vaters und einen Sohn Mariens; Jesus ist der Sohn eines jeden der beiden, und er verschmähte es nicht, Sohn Mariens genannt zu werden (Winkler IV 44). Die einzigartige Würde der Mutter erregt dieselbe Bewunderung wie das Herabsteigen des Sohnes. Maria darf sogar dem Gottessohn befehlen. Ihre Größe ist so erhaben, daß niemand sie würdig loben kann. Ihre Größe ohne Maß wird nur erkennbar, wenn man sie mit der Größe Gottes vergleicht (Winkler VIII 564f.). Das innigste Zusammenleben von Jesus und Maria wird besonders im Leiden erkennbar. Daher steht die Schmerzhafte Mutter über den Märtyrern; ihr Mitleiden war größer als ein körperlicher Schmerz sein konnte. Sie ist mit Jesus »durch das Herz« gestorben. »Ihr Tod wurde durch eine so starke Liebe verursacht, wie kein anderer Mensch sie empfinden kann« (Winkler VIII 616 f.).
VII. Assumptio corporalis: Ob B. die leibliche Aufnahme Marias in den Himmel gelehrt hat, ist kontrovers (vgl. Nogues 96; Raugel 123-130; Aubron 27; Jugie 368; Balic, Testimonia I, 1948, 198-200; Manoir II 572; Roschini 173-182). Aus den echten Schriften läßt sich eine einzige Belegstelle anführen: »Erhöhe schließlich die, welche über die Chöre der Engel zu den himmlischen Reichen erhöht wurde« (Epist. 174,2: Winkler III 1016 f.). Die Unbestimmtheit dieser Aussage wird auch in den Homilien zum Fest der Assumptio nicht aufgehellt. Wohl hat man seit dem 13. Jh. versucht, B. zu einem Lehrer der leiblichen Aufnahme zu machen; die angeführten Stellen stammen aber nicht aus seinen echten Schriften (vgl. Barré 104-106). Immerhin muß man feststellen, daß B. die Assumptio nicht abgelehnt hat wie die Unbefleckte Empfängnis; der Gedanke war ihm wohl sympathisch, hat aber für seine Mariologie keine Bedeutung erlangt. »Welche Freude hat die Himmelsbewohner erfüllt, als sie Marias Stimme hörten, ihr Gesicht sehen und ihre selige Gegenwart genießen durften!« Wie ein reißender Strom überflutete die Freude die Stadt Gottes (Winkler VIII 528 ff.). Jesus empfängt die in seinem Himmel, die ihn in ihrem Schoß empfangen hat. Beide Empfänge sind unaussprechlich und entziehen sich unserer Erkenntnis (Winkler VIII 526 f.). Maria ist nun die mit der Sonne bekleidete Frau, eingetaucht in das unzugängliche Licht, soweit es einem Geschöpf nur möglich ist (Winkler VIII 598).
VIII. Mediatrix: Maria ist die Mitte der ganzen Schöpfung; in ihr begegnen sich Gott und die Welt (Winkler VIII 404 f.). In den Bildern des Aquädukts, des Kanals, des Fahrzeugs zeigt B., wie Maria von oben nach unten und von unten nach oben vermittelt. Das göttliche Leben überflutet durch sie hindurch die ganze Schöpfung (Winkler VIII 622 f.). Diese Vermittlung geschieht aber nicht durch einen seelenlosen Kanal; Jesus und Maria sind im Erbarmen gegen alle Menschen, im Willen, sie zu retten, völlig eins geworden. — Ist Maria die Quelle aller Gnaden? Einige Texte scheinen dafür zu sprechen: »Nihil nos Deus habere voluit, quod per Mariae manus non transiret« (Winkler VII 174). Gott hat die Fülle aller Güter in die Hände Mariens gelegt, »qui totum nos habere voluit per Mariam« (Winkler, VIII 628; öfters von Päpsten zitiert – vgl. Graber II, 161 u. 176). Die Gottesmutter ist der Wonnegarten, der seinen Wohlgeruch, d. h. die göttlichen Gnaden, auf alle ausströmt. Sie ist der Meeresstern, der immer und allen leuchtet. Es scheint aber, daß B. bei diesen Aussagen nur an die Inkarnation gedacht hat. Andere meinen, er habe gelehrt, daß alle Gnaden durch Maria vermittelt werden (vgl. Manoir I 537-549; 552 f.). — Maria ist unsere Mittlerin zu Gott; sie ist die Leiter (scala), auf der die Sünder zu Gott aufsteigen (Winkler VIII 628). Sie ist für uns der Königsweg, da sie die Fülle der Gnaden hat und voll Mitleid gegen uns ist (Winkler VII 84). Was immer wir Gott darbringen wollen, müssen wir daher in ihre Hände legen (Winkler VIII 596 f.). »Opfere, o hl. Jungfrau, dem Herrn deinen Sohn, bringe ihm dar die gebenedeite Frucht deines Leibes! Bringe dar diese heilige, Gott angenehme Opfergabe für unser aller Versöhnung. Der Vater wird dieses neue Opfer voll annehmen, die so kostbare Opfergabe, von der er selbst gesagt hat: Dies ist mein geliebter Sohn …« (Winkler VII 420). Manche Theologen meinen, B. habe Maria priesterliche Funktionen zugeschrieben (Roschini I 230; Manoir I 506); man wird aber doch mit Laurentin sagen müssen, daß der Begriff »offerre« in diesen Texten nicht im streng theologischen Sinn angewendet wird (Laurentin I 140-145).
IX. Maternitas spiritualis: Nirgends nennt B. Maria »unsere Mutter« oder »Mutter der Menschen«. An den wenigen Stellen, wo sie »Mutter der Barmherzigkeit« genannt wird, ist die Mutter Jesu gemeint (vgl. Morineau, Comment… 121-152; Nogues 103-154; Raugel 142-144). »Ego vile mancipium, cui permagnum est Filii simul ac Matris esse vernaculum« (Winkler II 124).
Wer die Mariologie B.s verstehen will, muß beachten, daß er nur die Lehre der Kirche darstellen will und alle Neuerungen scheut. Nur was die Hl. Schrift, die Väter und die Liturgie lehren, will er verkünden. Diese Regel gilt für seine ganze Theologie, insbesondere aber für seine Mariologie: »accipe et in hoc non meam, sed Patrum sententiam« (De laudibus II 12 u. 14: Winkler IV 64 u. 68). Daher vermissen wir bei B. manche Ideen, die seine Zeitgenossen laut verkündet haben. Wir stellen bei dem begeisterten Lehrer eine bewußt nüchterne Selbstbeschränkung fest. Obgleich er der Gottesmutter völlig ergeben war, kann nicht davon die Rede sein, daß die Mariologie in seinem Werk einen alles beherrschenden Platz einnimmt. Das berühmte, ihm manchmal zugeschriebene Wort »De Maria numquam satis« hat er nie geschrieben; es paßt auch nicht zu seiner Haltung. Trotzdem hat er auf die Mariologie der Folgezeit einen gewaltigen Einfluß ausgeübt. Unter den großen Mariologen ist ihm ein Ehrenplatz zuzuerkennen.

Ausgaben: PL 182-184 — Opera omnia, ed. Leclercq u.a., I-VIII, 1957-1977 (= Leclercq). — Die Schriften des honigfließenden Lehrers B. v. Cl., übertragen von A. Wolters, 6 Bde., 1934-38. —Sämtliche Werke lat./dt., hg. Winkler, I‒X, Innsbruck 1990-99 — P. Aubron, L’oeuvre marial de S. Bernard, 1935 (nur franz.). — B. Bernard OSB, Saint Bernard et Notre-Dame, 1953 (lat.-franz.).

Literatur: L. Janauscheck, Bibliographia Bernhardiana, 1891 (Schrifttum bis 1890, etwa 3000 Titel). — B. M. Morineau, Comment la doctrine de la Maternité spirituelle de Marie s’installe dans la théologie mystique de S. Bernard, In: EtMar 1 [1935] 121-152. – D. Nogues, Mariologie de S. B., 1935. — A. Raugel, La doctrine mariale de S. B. — Manoir II 581—613. — F. da Sola, Fuentes patristicas de la Ma- riologia de S. Bernardo, In: EE 23 (1949) 209-226. – J. H.Humeres, Quanta polleat auctoritate S. B. in doctrina de mediatione BMV declaranda, In: EphMar 2 (1952) 325-350. – G. Roschini, Il dottore Mariano, 1953. — B. Garcia, S. Bernardo, Cantor de Maria, 1953. — B. v. Cl., Mönch und Mystiker. Internat. B.-Kongreß Mainz 1953, 1955. — B. de Cl, éd. par la Commission d’Histoire de l’ordre de Citeaux, 3 Bde., 1953. — Sint Bernardus, Gedenkboek, 1953. — J. Leclercq, Etudes sur S. Bernard et le texte de ses écrits, In: ASOC 9 (1953) 1—248 (= Fasz. 3/4 [darin H. Barré, S. Bernard, Docteur Marial, 92—113]). — J. Leclerq, Bernard et la Théologie monastique du XII siècle, in: Saint Ber¬nard_Théologien. Actes du Congrès de Dijon, 15-19 Sept. 1953 (= ACi 9 [1953] 3-4. 7-23). – Papst Pius XII., Enz. “Doctor mellifluus” (24.5.1953), in: HerderKorr, Juli 1953, S. 441 f. – S. Bernardo, Publicazione commemorativa nell’VIII centenario della sua morte, 1954 (darin G. M. Roschini, La mariologia di S. B., 92-131) – DSp I 1485-1490 — DThC II 746-785; über die UE VII 1010-1015 – LThK2 II 239-242 — L. Grill, Die angebliche Gegnerschaft des hl. B. zum Dogma von der UE, In: ASOC 16 (1960) 60-91. — H. Barré, St. B. et le »Salve Regina«, In: Mar. 26 (1964) 208-216. — G. Binding, LexMA I (1980) 1992-1998. — J. Leclercq, TRE V (1980) 644-651 – A. Louth, St. B. and Our Lady, In: Downside Review 101 (1983) 165-176. — B. Martelet, St. B. et Notre Dame, 1985. ‒ J. M. de la Torre, La mediación de María en San Bernardo, In: EphMar 40 (1990), 3/4, 221-243; ders., La mujer del Cantar, según San Bernardo, In: Ibid., 46 (1996), 2/3, 195-221. ‒ D. Silvano, Studi sul pensiero mariano di san Bernardo: rassegna bibliografica 1950-1990, In Marianum 54 (1992) 17-38. ‒ L. Marielle, L’influence de Saint Bernard sur la théologie mariale de la fin du Moyen Âge, In: Etudes mariales 54 (1999), S. 193-216. ‒ L. Gambero, Mary in the Middle Ages, San Francisco 2005. ‒ G. Wendelborn, Bernhard v. Clairvaux. Ein großer Zisterzienser in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts, F 1993. ‒ G. Winkler, Bernhard v. Clairvaux. Die eine und umfassende Kirche. Einheit in der Vielfalt, I 2001. ‒ Papst Benedikt XVI., Katechese „Bernhard von Clairvaux“ (21.10.2009, Rom): www.vatican.va/content/benedict-xvi/de/audiences/2009/documents/hf_ben-xvi_aud_20091021.html – A. Marco, La mariologia di San Bernardo, Rom 2016.

Autor: Prof. Dr. Michael Stickelbroeck (23.8.2023)