MARIENLEXIKON

Abecedarien

(F.-J. Holznagl / R. Weigand, ML I,12) – Alphabet-Gedichte sind Texte, bei denen die Anfangsbuchstaben jedes neuen Textabschnittes (Strophe, Versikelgruppe o. ä.), mitunter sogar jedes neuen Verses oder Wortes (Vers.-A., Wort-A.) hintereinandergelesen das Alphabet ergeben. Bereits in der frühchristl. Literatur wurden A. auch für marian. Dichtungen gebraucht.
1. Lateinische Marienabecedarien: Reine Marien-A. kennt die christl. Spätantike noch nicht, doch finden sich bereits im A. »A solis ortus cardine« des Sedulius, der noch heute in der Liturgie der Weihnachtszeit gesungen wird, auch 4 Strophen, die Maria besonders hervorheben (Szôvérffy 8f.).
Das früheste rein marian. A., das wir kennen, ist der Rhythmus »Aurora dicta sermone prophetico« (AHMA 19,22), den Szôvérffy (209f.) ins 9. Jh. setzt.
Eine gesteigerte MV und das gleichzeitige Aufblühen der mittel-lat. Dichtkunst brachten im 12. Jh. auch eine wachsende Anzahl von A. hervor. Hauptträger dieser rel. Lyrik dürften immer noch Ordensleute gewesen sein, aber auch die Hohen Schulen leisteten einen erheblichen Beitrag. Vermutlich bildeten alphabetisch geordnete Spruchsammlungen des Schulbetriebes eine wichtige Grundlage. »Ave vena veniae« (AHMA 15,49) ist mit den 27 Strophen zu je 6 Vagantenzeilen wohl ein echter Vertreter solcher Scholarenlyrik.
Für seinen Hymus »Ave Benedictissima, Caritate Dulcissima« etc. (AHMA 48,350) beruft sich Guillaume de Degilleville im 14. Jh. auf das Vorbild der Lamentationen des Jeremias; dieses Wort-A. bietet trotz seiner Kürze eine knappe Summe marian. Traditionen. Häufiger sind Vers-A. (etwa AHMA 15,50) und 46,121); die weiteste Verbreitung fanden im 15.Jh. Strophen-A., nicht zuletzt durch die zahlreichen Dichtungen des Ulrich Stoecklin (vgl. Szôvérffy 213-219). Auch unter den Reimoffizien gibt es A., wenn auch nicht in vollständiger Form: AHMA 5,14 mit den 5 Vokalen als Anfangsbuchstaben, hingegen AHMA 5,15 mit der Buchstabenfolge A-I.
Im 15. und 16. Jh. werden vermehrt Rosarien gedichtet; neben dem genannten Ulrich Stoecklin ist z. B. der Kartäuser Johann Justus v. Landsberg (+ 1539) als Dichter bemerkenswert, der jedem Ave eines Rosenkranzes an Maria gerichtete, alphabetische Zusätze voranstellte.
2. Deutsche Marienabecedarien: In deutscher Sprache finden sich solche Marien-A. erst im SpätMA. Das bekannteste Beispiel ist das »guldein abc« des Mönchs v. Salzburg (Spechtler Gl). In 24 nach dem Abc geordneten Versikelgruppen (von denen die 1. noch zusätzlich als Wort-A. gestaltet ist) stellt dieser kompliziert gebaute Marienleich durch eine Fülle von Beiwörtern, Sinnbildern und Lobpreisungen die Tugend, Schönheit und heilsgeschichtliche Bedeutung Mariens heraus. Ein zweites Marien-A. des Mönchs (Spechtler G5) ist eine Übersetzung des lat. Marien-A. des Jakob v. Mühldorf (AHMA 54, Nr. 243) und zeigt die Kenntnis der lat. Tradition der A. Weitere dt. Marien-A. finden sich bei Heinrich v. Laufenberg (Wackernagel II Nr. 732-736). Auch wenn diese A. in Strophenform und Reimtechnik schlichter sind als der „Marienleich“ des Mönchs, versuchen diese Lobgedichte dennoch, traditionelle Marienbilder und -vorstellungen in einer formal anspruchsvollen Weise darzubieten. Inhaltlich führt dies (auch bei den anderen Marien-A. zu einer Anhäufung von Sinnbildern und Ehrentiteln, die nur lose miteinander verknüpft sind (Wackernagel II Nr. 736 z.B. trägt auf 23 Verszeilen nahezu dieselbe Anzahl an Ehrenbezeichnungen und allegorischen Bildern zusammen). Im mittelniederdeutschen Sprachraum haben sich 6 Marien-A. erhalten. Bei dem ersten handelt es sich um ein schlichtes Gebet für die Sterbestunde, das noch im 15. Jh. entstanden ist und sich bittend an Maria und Jesus wendet (Wackernagel II Nr. 1014). Die anderen fünf A. stammen aus dem frühen 16. Jh., gehen aber auf ein verlorengegangenes Original aus der Mitte des 15.Jh.s zurück (Leloux 169-186). Da der Anfang jeder Strophe eine preisende Anrede an Maria enthält, während der Schluß immer eine Bitte um Beistand vorträgt, zeigen diese A. sowohl Züge des Lob- als auch des Bittgedichtes. Einfache Gebete an Maria in Abc-Form überliefern schließlich noch zwei Hss. im Hist. Arch, der Stadt Köln (cod. G.B.f.47,lrv) und in der StB Nürnberg (cod. Cent. VI. 60, 368v-369v). Einen Sonderfalll stellen die beiden Marien-A. dar, die in zwei dt. gereimten Übersetzungen des franz., allegorischen Gedichtes »Le Pelerinage de Vie humaine« enthalten sind (Böhmer V 11056-1383; Meijboom V 10888-11199). Sie übertragen unabhängig voneinander das Marien-A. ihrer Vorlage ins Dt., in dem ein Pilger auf seinem allegorischen Weg zum Himmlischen Jerusalem in Bedrängnis geraten, Maria um Hilfe anfleht.

Ausgaben: F. V. Spechtler (Hrsg.), Die geistl. Lieder des Mönchs v. Salzburg, 1972. — H. J. Leloux, Spätma. Versionen eines Marianischen Abecedariums aus Norddeutschland und aus dem Nordosten der Niederlande, In: Studia Germanica Gandensia 6 (1975) 169-186. — A. Böhmer (Hrsg.), Die Pilgerfahrt des träumenden Mönchs. Aus der Berleburger Hs., Nach der Kölner Hs., 1926.
Lit.: Szövérffy, Marianische Motivik der Hymnen, 1985, 209-219 – VL² 77-80; V 1281 f. – MK I,17-19.