MARIENLEXIKON

Perle (Symbolik)

Artikel von Genoveva Nitz, Marienlexikon VI (1994) 867, überarbeitet 2024

Perle. Die hohe Wertschätzung der Perle im Altertum bezeugen viele Aussagen der Bibel (Ijob 28,18; Offb 18,12. 16, 21,21; Mt 7,6) und dem antiken Schrifttum (Plinius, Solinus, Aelian). Die frühchristl. Exegese (Clemens v. Alexandrien, Origenes, Ephräm der Syrer) sah in der „besonders kostbaren Perle“ (Mt 13, 46) ein Sinnbild Christi. Zugleich führten die Vorstellungen über Herkunft u. Entstehung der als einzigartig geltenden Perle zu Vergleichen mit der Einzigartigkeit der Empfängnis Jesu durch die Jungfrau Maria.
Plinius erzählt von der Perle, die »von allen Sachen den höchsten Preis erzielen«, dass die Perlmuscheln sich in der zur Zeugung bestimmten Stunde öffnen und den Tau des Himmels aufnehmen. Ihre Frucht ist die P., deren Reinheit von der jeweiligen Beschaffenheit des Taus abhängt: Die bei reinem Himmel gebildete P. ist schimmernd weiß, die bei trübem dunkel. Da die P. vom Himmel empfangen wird, hat sie zu diesem eine größere Affinität als zum Meer (Plinius, Nat. hist. IX 106 ff.).
Die wohl ursprünglich aus dem Orient stammende Natursage von der Befruchtung der Muschel durch den Tau übernehmen frühe Fassungen des -> Physiologus: Die Muschel »steigt in der frühen Morgenstunde zu Sonnenaufgang aus dem Meer empor, und da öffnet sie ihren Mund und trinkt den Himmelstau, und sie schließt den Strahl von Sonne, Mond und Sternen in ihre Schalen ein, und wird durch die Lichter aus der Höhe schwanger, und sie gebiert die Perle« (Seel 66, 117-119). Die Perle ist Christus, die zwei Flügel der Muschel bedeuten AT und NT, und die Himmelskörper versinnbildlichen den Hl. Geist, der beiden Testamenten innewohnt. Andere Redaktionen des Physiologus gehen auf eine griech. Tradition zurück, welche die Entstehung der Perle aus einem Blitzschlag, der in die Muschel hineinfährt, erklärt, und verbinden diesen Vorgang mit der Inkarnation: »Denn der göttliche Blitz aus dem Himmel, der Sohn und Logos Gottes, ist in die ganz reine Muschel, die Gottesgebärerin Maria, eingegangen, eine überaus kostbare Perle ist aus ihr geworden worüber geschrieben steht: Sie hat die Perle, den Christus, aus dem göttlichen Blitz geboren« (Treu 86). Beiden Spekulationen über die Entstehung der P. — der im Abendland weiter tradierten Vorstellung der Empfängnis durch den Tau und der griech. Theorie des Blitzschlags — liegt die gemeinsame Auffassung vom himml. Ursprung der Perle zugrunde.
Für die marian. Symbolik der Perle sind drei Vorstellungen maßgeblich: 1. Maria ist die Hüterin der kostbaren P., Christus. 2. In ihrer Reinheit u. Tugendschönheit ist sie selbst wie eine Perle. 3. Die wunderbare Entstehung der P. ist ein Gleichnis für das Wunder ihrer jungfräul. Mutterschaft. Als Hinweis auf diese Symbolik zu verstehen sind Darstellungen des Perlenschmucks Marias: als Krone (Oberrhein. Meister um 1425: Madonna in den Erdbeeren, Kunstmuseum Solothurn; Werkstatt Rogier van der Weyden, um 1430: Stehende Madonna lactans, Kunsthist. Mus. Wien), als Zierde am Haupt (Piero della Francesca: Geburt Christi, Nat. Gallery London; Filippo Lippi: GM mit zwei Engeln, Uffizien Florenz), als Brosche bzw. Agraffe (Stephan Lochner: Maria im Rosenhag, Wallraf-Richartz-Mus. Köln; Verrocchio-Schule, Gemäldegalerie Berlin), oder als Gewandzierde (Piero della Francesca: Madonna mit Heiligen, Brera Mailand; Bartolomeo della Gatta: Himmelfahrt u. Gürtelspende Mariens, Mus. diocesano Cortano).
Das -> Defensorium inviolatae virginitatis beatae Mariae bezieht das Gleichnis der Befruchtung durch den Himmelstau auf die Perlenmuschel und auf die -> Schnecke. In der Emblematik der Neuzeit wurde die Muschel mit Perle auf die Jungfräulichkeit Marias sowie auf die UE bezogen. Celestino Sfondrati (Innocentia vindicata, 1695) zitiert Plinius: »Coeli majorem eis societatem esse, quam maris«, und betont die Einzigartigkeit der Entstehung der Perle; die Kupferstich-Illustration dazu zeigt eine Muschel mit großer, rein weißer Perle von vollkommener Kreis- und Kugelform auf den Wellen eines trüben Meeres. Fr. Ohly (Tau u. Perle 278) verweist auf die zahlr. Embleme und die weit ausholende Perlenmetaphorik in der Barockzeit, wo »nicht weniger als 70 Muschel-, Perlen-, Tau- und Blitzmetaphern für Maria« bekannt waren (Freskendarstellungen in Wessobrunn, ehem. Benediktinerklostergebäude, 1712; Schönau, Pfarrkirche Mariä Himmelfahrt, 1726; Marienberg, Wallfahrtskirche Mariä Himmelfahrt, 1764).

Literatur: Siehe -> Art. Edelsteine. — Salzer 8.76.114.243ff. — O. Casel, Die Perle als rel. Symbol, In: BenM 6 (1924) 321-327. — C. Vona, La margarita preciosa nella interpretazione di alcuni scrittori ecclesiastici, In: Div 1 (1957) 118-160. — Der Physiologus, übertragen u. erläutert von O. Seel, 1960, 5/1987. — Physiologus. Naturkunde in frühchristl. Deutung, hrsg. von U. Treu, 1981, 2/1987. — Fr. Ohly, Tau und Perle, in: Schriften zur ma. Bedeutungsforschung, 1983, 274-292. — Ders., Die Geburt der P. aus dem Blitz, ebd. 293-311. — Meersseman, Register, s. »Margarita«. — LCIIII 393 f. – D. Forstner, Die Welt der christlichen Symbole, 5/1986.

Links: https://www.bibelkommentare.de/lexikon/1020/perle

Genova Nitz, überarbeitet 2024