MARIENLEXIKON

Johann Michael Sailer (Theologe, Bischof)

Artikel von ML V, 627 ff. (1993), kontrolliert 2025 – Autor: Bertram Meier.

Sailer, Johann Michael, *17.11.1751 in Aresing bei Schrobenhausen, + 20.5.1832 in Regensburg, trat 1770 in den Jesuitenorden (»Noviziat der Gottseligkeit«) in Landsberg am Lech ein. Die Aufhebung seiner Ordensgemeinschaft traf den jungen Mann, als er in Ingolstadt Philos. studierte. Er wechselte zum Augsburger Diözesanklerus und empfing 1775 die Priesterweihe. Mit erzwungenen Unterbrechungen, in denen er sich engagiert pastoralen Tätigkeiten widmete, lehrte er als Theol.-Prof. v. a. praktische Disziplinen in Ingolstadt, Dillingen und Landshut.
Da ihm die kirchl. Behörden und der »Wiener Kreis« um Klemens M. -> Hofbauer zeitlebens kritisch gegenüberstanden, scheiterten mögliche Ernennungen zum Erzbischof von Köln bzw. Bischof von Augsburg. Schließlich wurde Sailer am 17. 4. 1822 gegen die Bedenken der Münchener Nuntiatur zum Koadjutor des gebrechlichen Bischofs von Regensburg ernannt. 1829, nach dem Tod von Bischof Wolf, konnte er die Leitung der Diözese übernehmen. Trotz seines Alters und der angeschlagenen Gesundheit wirkte er beherzt und segensreich im Volk.
Die Lebensdaten Sailers umspannen tiefgreifende geschichtl. Umbrüche, die eine Zeitenwende markieren: Französ. Revolution, Säkularisation in Deutschland, Untergang des alten Reiches u. Verbannung zweier Päpste. In bewegter Zeit erschloss S. — mit einer gewinnenden Persönlichkeit u. hoher wissenschaftl. Begabung ausgestattet — die Quellen der Hl. Schrift, Väterliteratur u. Mystik im Dienst einer Erneuerung der Kirche. Seine Offenheit u. Dialogbereitschaft gegenüber den geistigen Strömungen seiner Zeit ließen ihn zum Vorkämpfer praktizierter Ökumene werden. Schon zu Lebzeiten galt er als »Genie der Freundschaft«. Sailer war es auch, der durch wichtige Vorarbeiten die Verwendung der dt. Muttersprache in der Liturgie anbahnte.
Sailers Spiritualität ist von bibl. Tiefe geprägt. Er entwickelte eine von ihm als »Erfahrungstheologie« bezeichnete Mystik, die im wesentlichen eine Jesus-Frömmigkeit darstellt und sich aus der ignatianischen Spiritualität nährt. Alle Frömmigkeit gipfelt in seiner Kurzformel des Glaubens: »Gott in Christus — das Heil der Welt«. Diese »Grundlehre des Christentums« ist auch zur zentralen Perspektive seines theol. Mühens geworden. Er hat ihren Wahrheitsgehalt in schweren Jahren — verdächtigt und von seinem Lehrstuhl verbannt — erfahren müssen.
Da sich Sailer v. a. prakt. Disziplinen widmete, ist von ihm keine systemat. Mariologie zu erwarten. Dennoch lassen sich Grundanliegen in der MV herausfiltrieren. S. spricht über praktische Heiligen- u. Marienverehrung im Rahmen seiner pastoralliturg. Darlegungen (WW 18, 97; 18, 194; 19, 326-329) und in den Gebetbüchern (WW 24, 139-144 und WW 22, 189-192).
Es beeindruckt, wie er aller isolierten Betrachtungsweise der MV abhold ist: Zunächst wird MV in den Kontext der Heiligenverehrung gestellt. Dieser wird kategorisch abgefordert, dass sie aus dem liturg. Gesamtzusammenhang verstanden werden muss. Für den pastoralen Dienst folgt daraus, »dass der Liturge besonders die Lehre von der Verehrung der Heiligen nie anders als im Zusammenhang mit der Grundlehre des Christentums: Gott in Christus — das Heil der Welt, mit der wesentlichen Anbetung Gottes und mit der heiligen Liebe, die die Seele aller übrigen Tugenden ist, darstelle« (WW 18, 97). Dadurch bekommt die MV eine ihr entsprechende Ausrichtung, denn »wenn die Verehrung der Heiligen nichts anderes sein darf als eine Verehrung Gottes, eine Verehrung Christi in den Heiligen: so werden auch die Gedächtnistage der Mutter Jesu durch den belebenden Geist des christlichen Liturgen nichts anderes als so viele Festtage des Herrn sein« (WW 18, 194).
Daraus gewinnt Marienfrömmigkeit theozentrische, christol.-heilsgeschichtl., ekklesiol.-eschatol. u. anthropologische Akzente: »Es werden alle Rügen eines übertriebenen Marianismus ungerecht oder verschwunden sein, sobald Gott in Christus das A und O in allen öffentlichen und Privatandachten geworden« (WW 18, 194) sei. Wollte man daraus auf einen mariol. Minimalismus schließen, so wäre das ein Missverständnis von Sailers durchgehend prakt. Anliegen, das auf die Erneuerung gelebten Christentums abzielte. Auf den ersten Blick fällt seine Stoffauswahl aus heilsgeschichtl. Denken auf. Sie ist durchgängig bibl. u. liturg. orientiert. In den aszetischen Schriften bilden die bibl. Berichte, die von der Verkündigung bis zum Pfingstereignis ausgefaltet sind, einen strengen Leitfaden. Die Marienpredigten schließen sich stets an die Feste des Kirchenjahres an und bringen keine mariol. Gesichtspunkte, die dem jeweiligen Festgeheimnis fremd wären. Wichtiger als die Wahl des Predigtstoffes ist dessen Ausgestaltung: Die Akzente liegen auf der Gottesmutterschaft, dem Glauben der Mutter des Herrn und der dankbaren Freude Mariens.
Das Größte, was nach Sailers Überzeugung von Maria gesagt werden kann und was sie über alle Menschen erhebt, ist, dass sie von Gott selbst »gepflanzt« und »vor allen anderen ihres Geschlechtes auserwählt war, die Mutter des Herrn, des Messias, des Sohnes Gottes zu werden« (WW 24, 145). Deshalb wird durch den Blick auf Maria der Zugang zu Gott aber nicht verstellt. Er führt vielmehr zur Annahme des erlösenden Wirkens Gottes in der Geschichte. Wer Marias Mutterschaft bejaht, bejaht zugleich die Erwählung der gesamten Menschheit in ihrem Sohn sowie den absoluten Primat Gottes im Erlösungsgeschehen. In der Annahme ihrer Erwählung kann sich durch ihr Mitwirken die Menschwerdung Gottes vollziehen. Marias Anteil liegt darin, dass sie gehorsam und vertrauensvoll auf den sie treffenden Anruf Gottes antwortet. Daher ist sie Prototyp menschlicher Heilsmitwirkung, weil sie im wörtlichsten Sinn mit Fleisch und Blut an der Menschwerdung des Gottessohnes teilhat. Soll MV nicht zum Marianismus werden, dann muss sie nach Sailers Meinung für den Menschen »ins Leben übergehen«: Maria verkörpert exemplarisch das menschliche Grundverhalten vor Gott: »Wenn jeder seinen Posten, den ihm Geburt, Fleiß, sein Alter, sein Gönner, seine Geschicklichkeit angewiesen, als einen getreuen Wegweiser verehren würde«, dann wäre das die gebührende Frucht der Marienverehrung.
Daraus schält sich der Glaube als entscheidende Haltung heraus. Hier betont er die meditative Aufnahme des Wortes Gottes als Mitarbeit mit der Gnade: Maria »ließ die Gabe des Himmels nicht öde liegen — sie arbeitete mit Gott, mit seiner Gabe« (Predigten bei versch. Anlässen 3, 245-258).
Neben vorbildhaftem Glauben zeichnet Maria dankbare Freude aus, die ihren Grund in der Erwählung zur Mutter des Erlösers hat. Was Maria ihr ganzes Leben hindurch überdachte und in ihrem Beten durchmeditieren durfte, das hat sie im Magnificat hinausgejubelt. Für dieses Lied hat Sailer eine besondere Vorliebe (WW 18, 194-200; 24, 150-152; 24, 179-182; 33, 205-206), weil es ein Beispiel der Gottesverehrung sei: »Gottes Allmacht, Gottes Erbarmen, Gottes Verheißung, Gottes Treue, Gottes Segnungen — Gott, der segnet und erfreut; Gott, der erhöht und erniedrigt, bereichert und entblößt, auf den Thron setzet und in den Staub hinunterstürzet — Gott war der Inhalt dieses heiligen Gesanges« (WW 24, 182).
Es mag überraschen, dass Sailer nur am Rand auf die Fürbitte Marias eingeht, obwohl er die Frage der fürsprechenden Funktion in seiner systemat. Abhandlung über die Heiligenverehrung ganz im Sinn des Tridentinums abgefasst hat. Vermutlich geschah dies in der Absicht, den einseitigen und z. T. selbstsüchtig übertriebenen Bittcharakter der Heiligen- u. Marienverehrung in der Volksfrömmigkeit einzudämmen. Deshalb erweitert er in der von ihm geformten Litanei zur Lebensgeschichte Marias die Antwort auf die einzelnen Anrufungen in: »Heilige Jungfrau! Bitt für uns, dass der Vater im Himmel durch unsern Wandel auf Erden gepriesen werde!« (WW 24, 168-171).
Das lässt den Schluss zu, dass sein Schweigen zum Fürbittgebet sehr bewusst ist und eine unausgesprochene Kritik an einer weit verbreiteten Praxis bedeutet. Bemerkenswert ist auch, dass er zwar die GMschaft Marias in den Mittelpunkt stellt, aber über andere Glaubenswahrheiten (z.B. UE) schweigt. Hier leuchtet seine ökum. Grundhaltung auf. Seine Schriften enthalten nichts, was nichtkath. Christen Anstoß geben könnte. Dies brachte ihn von konservativer Seite in den Verdacht eines mariol. Minimalisten. Was für sein ganzes Leben und Wirken gilt, trifft auch für seine Überlegungen zur MV zu: Einer traditionsverhafteten Richtung war er suspekt, der aufbrechenden modernistischen Bewegung erschien er als reaktionär. Sein Ziel aber war es, die Menschen durch seelsorgliches Begleiten und theol. Lehre zur Mitte zu führen: »Wer uns Maria nennt, der bringt uns unseren Christus wieder neu in Aug und Herz, denn sie ist es ja, durch die uns Jesus Christus geboren ward« (WW 18, 199).

WW: Johann Michael Sailer’s sämmtliche Werke, unter Anleitung des Verfassers hrsg. von J. Widmer, 40 Bde., Sulzbach 1830-41, 1855 (Supplementband).

Literatur: I. Weilner, Gottselige Innigkeit. Die Grundhaltung der rel. Seele nach J. M. Sailer, 1949. — J. R. Geiselmann, Von lebendiger Religiosität zum Leben der Kirche. J. M. Sailers Verständnis der Kirche geistesgeschichtlich gedeutet, 1952. — F. W. Kantzenbach, J. M. S. und der ökumen. Gedanke, 1955. — J. Hofmeier, Marienverehrung im pastoraltheol. Denken J. M. Sailers, In: GuL 40 (1967) 107-121. — F. G. Friemel, J. M. S. und das Problem der Konfession, 1972. — M. Probst, Gottesdienst in Geist u. Wahrheit. Die liturg. Ansichten u. Bestrebungen J.M. Sailers, 1976. — G. Schwaiger, J. M. S. Der bayer. Kirchenvater, 1982. — J. Müller, »Heil für die Welt«. J.M. Sailers Beitrag zur Weiterentwicklung einer theol. Theorie der Pastoral, In: LS 34 (1983) 273-279. — B. Meier, Die Kirche der wahren Christen. J. M. Sailers Kirchenverständnis zwischen Unmittelbarkeit u. Vermittlung, 1990. – Theodor Rutt, J. M. Sailers Mariologie u. Marienverehrung, in: PAMI (Hg.), “De cultu mariano saeculis XVII…” (Acta Congressus Mariologici-Mariani … anno 1983), Vol. IV, Cittá del Vaticano 1987, S. 595-626.