MARIENLEXIKON

Carlo Passaglia (Theologe)

Autor: Peter Walter (1991, ML IV, 106 f.) / Imre van Gaál (Mai 2025)

Passaglia, Carlo, Theologe, *2.5.1812 in Pieve S. Carlo bei Lucca, + 12.3.1887 in Turin, wurde bereits 1827 SJ-Novize, war 1845-48 sowie 1850-57 Dogmatik-Prof. an der Gregoriana in Rom, gab wegen Streitigkeiten mit den Oberen um seine theol. Methode (Widerstand gegen die offiziell geforderte Neuscholastik) wie um die Ordensdisziplin (Protest gegen die Versetzung seines engsten Mitarbeiters Clemens Schrader SJ nach Wien) seine Lehrtätigkeit auf und verließ 1859 den Jeusitenorden. Bedingt durch die Revolutionswirren, weilte er zunächst in Oxford und lehrte dann in Löwen. Auf Geheiß Pius‘ IX., der ihn wegen seiner Mitarbeit bei der Vorbereitung der Definition der Immaculata conceptio schätzte, wurde er 1859 Prof. für Philosophie an der röm. Univ. »Sapienza«. 1860/61 versuchte P. zwischen dem liberal eingestellten Grafen Camillo Cavour, dem führenden Politiker der ital. Einigungsbewegung, und der röm. Kurie zu vermitteln. Seine Initiative für einen freiwilligen Verzicht des Papstes auf den Kirchenstaat brachte ihm 1861 die Indizierung der entsprechenden Schriften sowie die Exkommunikation ein, die trotz versch. Versuche von beiden Seiten erst auf dem Sterbebett rückgängig gemacht wurde. Von 1861 bis zu seinem Tod lehrte P., der zeitweilig auch journalistisch tätig war, an der Universität Turin Moralphilosophie, gründete die Zeitschrift „Il Mediatore“ und verfasste Beiträge für „Il Gerdil“ u. „La Pace“.
Die theol. Bedeutung Passaglias, eines der führenden Theol. des 19.Jh.s, liegt auf dem Gebiet der Methodenlehre, der Ekklesiol. wie der Mariologie. Seine große Kenntnis der Kirchenväter wie v.a. seine Reflexionen über das Verhältnis von Schrift u. Tradition wurden im Zusammenhang mit der Definition der IC 1854, an deren Vorbereitung er seit 1851 maßgeblich beteiligt war, unmittelbar für die marian. Lehre der Kirche und für die Mariol. fruchtbar. Von den insgesamt acht Entwürfen für die Definitionsbulle stammt der dritte von P. (vgl. Sardi II 76-89). Bei dem zweiten, von Abt Guéranger von Solesmes verfassten Schema, das bei der weiteren Erarbeitung des Textes kaum mehr eine Rolle spielte, hat P. mitgearbeitet (vgl. Frénaud). Von entscheidender Bedeutung sind Passaglias Klärungen für die theol. Begründung des Dogmas, die er in den vorbereitenden Kommissionen (vgl. Sardi I 971-838; II 46-60. 93-101 u. ö.) sowie in seinem später erschienenen Werk »De immaculato Deiparae semper virginis conceptu« (2.104 Seiten Umfang!) vorgetragen hat. Pius IX. bestand darauf, dass alle Kommissionsmitglieder Passaglias Studie zur IC lesen. Nach P. handelt es sich bei dem Dogma nicht um eine theol. Konklusion, sondern um eine Glaubenswahrheit, deren Enthaltensein im Wort Gottes freilich nicht in einem lückenlosen Schrift- u. Traditionsbeweis nachgewiesen werden muss, sondern im Lichte des gegenwärtig in der Kirche gelehrten u. liturg. gefeierten Glaubens — gleichsam regressiv — aus Schrift u. Tradition erhellt. Diese Argumentationsstruktur war ebenos bei der Definition der Assumptio Mariae 1950 leitend. Die Bedeutung P.s für die Mariol. besteht weniger in einer eigenen mariol. Konzeption als in der Bereitstellung von reichem, heute noch wertvollem Material, v.a. aus den Schriften der Kirchenväter, sowie bes. in der Reflexion auf den Ort von Schrift u. Tradition bei der theol. Begründung des Dogmas von 1854.
Mit Maria ist der Theologe gleichzeitig Zeuge u. Hüter des göttl. Schatzes, der zunächst in Maria und seither in der Mitte der Kirche, des Bräutigams Christi, ruht. Beeinflusst durch Petavius, den griech. Vätern, seinem Lehrer -> G. Perrone und der Tübinger Schule, lehnt er ein monolithisches System à la Neoscholastik ab. Wie Maria ist die Kirche lebendig. Mit ihr ist die Glaubensgemeinschaft eine umfass., organische Gesamtheit in Raum u. Zeit, die sich stets eines rein menschlichen, rationalist. Erfassens ihres Wesens entzieht. Gerade so kann es für P. zu je neuen Entfaltungen des einen Christusmysteriums kommen (vgl. Y. Congar). Die Via humilitatis Mariens – als Gratia plena – ist maßgeblich für die Kirche als Signum et instrumentum der Dreifaltigkeit. Mit Maria ist die Kirche Ecclesia de Trinitate. Deshalb lehnt P. ein stat. Traditionsverständnis ab (vgl. W. Kasper, 381). In Einheit mit Marias Gesinnung lebt die Kirche eine dynamische, lebenspendende Tradition, dank der fortdauernden Gegenwart des Hl. Geistes in der Kirche seit der Verkündigung. Nur so gibt es eine Traditio allusiva zw. Gen 3,15 („Frohbotschaft aus der Urzeit,“ vgl. Flunk), Lk 1, 28 und der Definition 1854. Dogmen sind organ. Entfaltungen, der in Christus objektiv u. materiell abgeschlossenen Selbstoffenbarung Gottes. So wie Maria Ursprung der Menschheit Christi ist, so ist analog die Kirche seinsmäßig Quelle der Vervollkommnung der Menschheit (P., De Immaculato, 1326). Wenngleich es eine Konsubstantialität bzgl. ihrer Menschennaturen zw. Mutter u. Sohn gibt, so gibt es keine Communicatio idiomatum zwischen beiden (P., De Immaculato, 738).
Dank seiner profunden Kenntnisse der Theologie, spekul. Gedankengänge u. synthet. Kraft bringt Passaglia die Mariologie zu bisher ungeahnten Höhen, die in den Mariendogmen von 1854 u. 1950, wie auch in Lumen Gentium Nr. 52 ff. kulminieren. Seine Mariologie beeinflusste direkt -> M. J. Scheeben – seinen wohl fähigsten Schüler, wie auch indirekt René Laurentin, -> Hugo Rahner, Otto Semmelroth, -> Hans Urs von Balthasar u. -> Joseph Ratzinger.

Eine vollständige Biografie bietet: V. M. Rossi, Carlo Passaglia on Church and Virgin, 2020 (267 f.); vgl. Sommervogel VI 332—336.

Hauptwerke: Carlo Passaglia, De praerogativis Beati Petri apostolorum principis auctoritate divinarum litterarum comprobatis, Ratisbonae 1850. — Commentariorum theologicorum pars prima, altera, tertia, 3 Bde., Romae 1850—51 (Trinitätslehre). — De Ecclesia Christi commentariorum libri quinque (erschienen sind 3 Bücher in 2 Bd.), Ratisbonae 1853—56. — De immaculato Deiparae semper virginis conceptu commentarius, 3 Bde., Romae 1854—55; Napoli 2. Aufl./1855.

QQ: V. Sardi (Hg.), La solenne definizione del dogma dell’immacolato concepimento di Maria Santissima. Atti e documenté 2 Bde., Roma 1904-05.

Literatur:
Zur Mitarbeit an der Definition der IC vgl. Virgolmmac II, passim, bes. G. Frénaud, Dom Guéranger et le projet de Bulle »Quemadmodum Ecclesia« pour la définition de l’immaculée conception, 337-386. — M. Flunk, „Das Protoevangelium (Gen 3,15) und seine Beziehung zum Dogma der unbefleckten Empfängnis Marias,“ in: ZkTh (1904) 641-671. – H. Schauf, Die Einwohnung des Hl. Geistes, 1941. – W. Kasper, Die Lehre von der Tradition in der Röm. Schule (G. Perrone, C. Passalgia, C. Schrader), 1962 (Lit.). — Y. Congar, A History of Theology, 1968. – A. Giovagnoli, Dalla teologia alla politica. L’itinerario di C. P. negli anni di Pio IX e Cavour, 1984 (ohne Bibl.!). — G. Rambaldi, I due tempi della riconciliazione con la chiesa di C. P. Con documenti inediti, In: AHSJ 55 (1986) 87-128. — J. Schumacher, Das mariol. Konzept in der Theologie der Röm. Schule, In: TThZ 98 (1989) 207-226. – E. Naab, „Passaglia, Carlo,“ in: BBKL VI (1993) Sp. 1575-79. – G. Carlin, L’ecclesiologia di C. P. (1812-1887), 2001. – G. Canobbio, La Chiesa e la Trinità nell’opera di C. P., in: Ecclesiam intelligere. Studi in onore di S. Dianich, hg., S. Noceti u.a. (2012), 191-204. – V. Rossi, C. P. on Church and Virgin, 2020. – Imre v. Gaál, Das Protoevangelium in der Auslegung von C. Passaglia: ein bedeutender Mariologe u. umstrittene Gestalt des Risorgimento, in: Maria als Siegerin über die Mächte des Bösen. Hg. v. M. Hauke, Regensburg 2024, 27-49. – DThC XI 2207-10. – LThK2 VIII 133. – LThK3 VII 1414 – NCE X 1051 f.

P. Walter (1991) /Imre van Gaál (2025)